»Herkunftssache!« Literarisch-künstlerische Zusammenkünfte

Vom 13. bis 15. Oktober im Stuttgarter Literaturhaus

»Die Rückkehr in ein Herkunftsmilieu, aus dem man hervor- und von dem man fortgegangen ist, bedeutet immer auch ein Wiedersehen mit … einem konservierten wie negierten Selbst: Das Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören, die schier unvereinbar weit auseinanderliegen und doch in allem, was man ist, koexistieren.« Didier Eribon

Didier Eribons zutiefst berührendes Buch, »Rückkehr nach Reims«, eine autobiografische und zugleich soziologische Annäherung an seine Familie aus den verarmten Banlieues in Reims, bildet den Auftakt für das Festival »Herkunftssache!« Herkunftsfragen können jedoch nicht auf die soziale Kategorie reduziert werden, sondern sind stets verschränkt mit ethnischen, kulturellen oder geschlechtlichen Zuschreibungen. Wie können wir diese, einmal angeeignet oder etikettiert, zukünftig wieder durchlässiger machen? Wie können wir die Vielfalt der Herkünfte in eine positiv besetzte Heterogenität integrieren, wie trotz Distinktion Gemeinschaft herstellen? Was kann Kultur, Kunst und Literatur tun, um populistischen und vereinfachten Einordnungen entgegenzuwirken? Diesen Fragen auf der Spur macht das Literaturhaus Stuttgart die »Herkunftssache!« zu seiner Sache: Bestandteil der Befragungen sind zahlreiche Begegnungen mit den Gästen des Festivals, Lesungen, Gespräche und Vorträge. Des Weiteren haben sich Jugendliche im Vorfeld des Festivals in einen Familientausch begeben; ihre Erfahrungen werden im Laufe des Festivals präsentiert. Und unter dem Titel »Auf Augenhöhe in Halbhöhe« ist eine begleitende Textsammlung zeitgenössischer Autor*innen entstanden, die die vielfach namenlosen weißen Klingelschilder in Halbhöhenlage zum Anlass einer »Neubeschreibung« genommen haben. Die begleitende Ausstellung des Comics »La grieta/Der Riss« setzt unsere Perspektiven in einen Bild- und Textdialog europäischer Außengrenzziehungen und Herkunftsfragen.

Förderer und Partner: Kulturstiftung des Bundes, Bundeszentrale für politische Bildung, Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg, Konrad-Kohlhammer-Stiftung, Akademie Schloss Solitude, Institut français Stuttgart und Deutsch-Türkisches Forum

Eintritt: Einzelveranstaltung 10,-/8,-/5,- € // Festivalpass 30,-/20,-/15,- €

Lesung und Gespräch
Freitag 13.10. 19 Uhr
Rückkehr nach Reims
Didier Eribon
Moderation: Hinrich Schmidt-Henkel
Deutsche Lesung: Stefan Wancura
Der französische Soziologe und Foucault-Forscher Didier Eribon realisiert in seiner Studie »Rückkehr nach Reims«, wie sehr er nicht nur unter der Homophobie seines Herkunftsmilieus litt, sondern dass es vor allem auch der Habitus einer Arbeiterfamilie war, der es ihm schwer machte, in der Pariser Gesellschaft Fuß zu fassen.

Lesung und Gespräch
Freitag 13.10. 20.30 Uhr
Im Herzen der Gewalt
Édouard Louis
Moderation und deutsche Lesung: Hinrich Schmidt-Henkel
Indem er von Kindheit, Begehren, Herkunft und Rassismus erzählt, macht der junge französische Schriftsteller Édouard Louis in seinem neuen Roman »Im Herzen der Gewalt« unsichtbare Formen der Gewalt sichtbar. Was als zarter Flirt beginnt, schlägt in Bedrohung und Gewalt um. Édouard Louis war Schüler von Didier Éribon, dem er sein Debüt »Das Ende von Eddy« widmete, das in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde.

Lesung und Gespräch
Samstag 14.10. 18 Uhr
Grenzüberschreitungen
Fatma Aydemir und Alissa Ganijewa
Moderation: Deniz Utlu
Deutsche Lesung: Marit Beyer
In Fatma Aydemirs Romandebüt »Ellbogen« begeht die 17-jährige in Berlin geborene Hazal Akgündüz auf der Suche nach ihrer Identität fatale Fehler. Auch die junge Schriftstellerin Alissa Ganijewa aus der nordkaukasischen Republik Dagestan lässt in ihrem Roman »Eine Liebe im Kaukasus« Tradition und Moderne, Herkunft und Wunschidentitäten aufeinanderprallen.

Lesung und Gespräch
Samstag 14.10. 19.30 Uhr
Das deutsche Krokodil
Ijoma Mangold
Moderation: Wiebke Porombka
Ijoma Mangold, heute einer der bekanntesten Literaturkritiker und Literaturchef der ZEIT, denkt in seinem neuen Buch »Das deutsche Krokodil« über seine Herkunft nach: Wie wuchs er in der Bundesrepublik auf? Und womit fällt man in Deutschland mehr aus dem Rahmen, mit einer dunklen Haut oder mit einer Leidenschaft für Thomas Mann und Richard Wagner?

Lesung und Gespräch
Samstag 14.10. 20.30 Uhr
Zwischen Sprachen
Valzhyna Mort und Uljana Wolf
Moderation: Insa Wilke
Deutsche Lesung: Marit Beyer
»Alles bleibt in Bewegung, in Gegenbewegung«, so der Kritiker Michael Braun über die Lyrikerin, Chamisso-Preisträgerin und Übersetzerin Uljana Wolf. Und diesen Unruhezustand des Poetischen in den Herkünften der Sprache teilt sie mit der belarussischen Autorin Valzhyna Mort. 1981 in Minsk geboren, lebt diese seit 2005 in den USA und verfasst ihre Gedichte heute in Englisch und Belarussisch. Uljana Wolf wiederum übersetzt Mort aus dem Englischen ins Deutsche. Beide arbeiten gegen identitäre Klischees und Zuschreibungen mit Wortwitz und Klugheit.

Konzert
Samstag 14.10. 21.30 Uhr
Herkunftssache!
Musik an Texte
Melinda Nadj Abonji und Jurczok 1001
Begonnen hat alles 1998 in einer Kellerbar in einem Zürcher Hinterhof, mit einer Lesung begleitet von Human Beatbox. Inzwischen haben Melinda Nadj Abonji und Jurczok für ihre musikalische Sprache renommierte Preise gewonnen. Sie für ihren Roman »Tauben fliegen auf«, er für sein Bühnenprogramm »Spoken Beats«. Noch immer verbindet sie die Liebe zur Literatur, die Liebe zur Musik. Und noch etwas mehr: die Suche nach immer neuen Verbindungen von beidem. Ihre Performances haben sie auf Festivals in ganz Europa gezeigt.

Melinda Nadj Abonji: Texte, Stimme, Elektrische Geige, Effektgeräte. Jurczok 1001: Texte, Stimme, Loops. Texte, Musik, Videos: www.masterplanet.ch

Frühstücksmatinee
Sonntag 15.10. 11 Uhr
Neue Texte 1: Auf Augenhöhe in Halbhöhe
Deniz Utlu, Joanna Bator, Ulf Stolterfoht und Björn Bicker
Moderation: Claudia Dathe
Die Topografie der Gesellschaft korrespondiert in Stuttgart mit der Topografie der Stadt: Bis zu einer bestimmten Höhe sind an den Klingelschildern in den Straßenzügen noch die Namen der Bewohner*innen zu lesen, um ganz oben in Halbhöhenlage häufig zu leeren Flächen zu werden. Das nehmen wir zum Anlass für eine literarische »Neubeschreibung«: Ulf Stolterfoht, Zsuzsanna Gahse, Senthuran Varatharajah, Deniz Utlu, Joanna Bator und Björn Bicker haben exklusiv zum Festival Herkunftsgeschichten geschrieben, die in einer Auswahl in Lesung und Gespräch vorgestellt werden.

Frühstücksmatinee
Sonntag 15.10. 12 Uhr
Neue Texte 2: Familienwechsel. Geschichten und Erfahrungen
Clara Deifel, Noah Duffner, Bekam Jala Guta, Clara Schick, Lounar Said und Katharina Tietze
Moderation: Thomas Richhardt
Eine Handvoll Jugendlicher und junger Erwachsener hat für eine Woche ihre Herkunftsfamilie verlassen und sich in den Alltag einer ihnen unbekannten Familie begeben. Sie haben dort gegessen, geschlafen, die in der Familie gültigen Regeln und Rituale erkundet und mit einem Paten einen täglichen Briefwechsel über ihre Wahrnehmungen geführt, begleitet vom Dramaturgen und Theaterpädagogen Thomas Richhardt. Dieser initiierte »Familienwechsel« beschreitet den Weg der künstlichen Verfremdung: Wie prägt Familie unsere Persönlichkeit? Auszüge aus der Werkstattbroschüre stellen wir in dieser Veranstaltung vor.

Diskussion
Sonntag 15.10. 18 Uhr
Herkunft in Zukunft
Muhterem Aras, Thomas Krüger, Sighard Neckel und Florian Kessler
Moderation: Jenny Friedrich-Freksa
»Ich bin Arztsohn, lassen Sie mich durch« übertitelte der Autor Florian Kessler seinen Artikel über die habitualisierte Reproduktion der Schreibstudiengänge vorwiegend durch Akademikerkinder. Über einen anderen Bildungs- und Herkunftshintergrund verfügt die Landtagspräsidentin Muhterem Aras, geboren in einem anatolischen Dorf in der Türkei. Der Professor für Soziologie an der Universität Hamburg, Sighard Neckel, macht mit seinen Gesellschaftsanalysen und Ungleichheitsforschungen schon seit geraumer Zeit auf sich aufmerksam, und Thomas Krüger denkt als Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung immer wieder neu über die Verquickung von politischer Bildung, Demokratiebildung und Herkunft nach. Zusammen richten die Gäste den Blick auf die Zukunft der Herkunft.

Tanzperformance
Sonntag 15.10. 20 Uhr
(De)signing Time
Miloš Sofrenović
Der serbische Choreograf Miloš Sofrenović schaut von der Herkunft ausgehend zur Zukunft: In seiner exklusiven Performance fragt er, wie wir Spuren in der Zeit hinterlassen können. Basis seines Konzeptes ist Aldous Huxley’s »Brave New World revisited« (1958). Die zweite Vorlage seiner Choreografie ist der Film »Aufzeichnungen zu Kleidern und Städten« von Wim Wenders (1989) über den japanischen Modedesigner und Philosophen Yohji Yamamoto.
Sofrenovic ist Kooperationsstipendiat der Akademie Schloss Solitude und des Literaturhauses Stuttgart.

Lesung und Gespräch
Sonntag 15.10. 20.30 Uhr
Wer sagt Dir, wer Du bist?
Melinda Nadj Abonji und Sasha Marianna Salzmann
Moderation: Katharina Raabe
Die Buchpreisträgerin Melinda Nadj Abonji schreibt über verinnerlichte Zuschreibungen und Formen des Ein- und Ausschlusses. Zoltán Kertész, blauäugiger Sohn eines »Halbzigeuners« und einer Tagelöhnerin, ist der Außenseiter in einem kleinen Ort in Serbien in ihrem neuen Roman »Schildkrötensoldat«. Mit Abonji ins Gespräch kommt Sasha Marianna Salzmann. Ihr Debütroman »Außer sich« erzählt von den Zwillingen Alissa und Anton, die aus dem Moskau der postsowjetischen Jahre in die westdeutsche Provinz gelangen. Als Anton, mittlerweile erwachsen, verschwindet, macht sich Alissa auf die Suche nach ihm, konfrontiert mit den großen Fragen der Zugehörigkeiten.

Ausführliche Informationen finden Sie unter www.literaturhaus-stuttgart.de.