Preis der Literaturhäuser 2020

Interview mit Marlene Streeruwitz – »Das war der Versuch der Vernichtung«

Marlene Streeruwitz, die am 28. Juni 2020 ihren siebzigsten Geburtstag feiert, blickt auf ein umfangreiches und vielseitiges Werk, bestehend aus Dramen und Hörspielen, Romanen, Essays und Poetik-Vorlesungen. Als eine der innovativsten und bedeutendsten deutschsprachigen Autorinnen, die sich immer auch politisch geäußert hat, ist sie mit zahlreichen Preisen geehrt worden und erhält in diesem Jahr den Preis der Literaturhäuser. Ich habe mit ihr über den Verriss ihres ersten Romans durch Marcel Reich-Ranicki gesprochen, darüber, wie sich Literaturkritik seitdem verändert hat, und über den Stand in Sachen Gleichberechtigung.

Gleich mit ihrem ersten Roman, »Verführungen«, der 1996 bei Suhrkamp erschien, erlebte Marlene Streeruwitz extreme Höhen und Tiefen des Literaturbetriebs. Ihr Roman erhebt weiblichen Alltag, der bis dato als nicht literaturfähig galt, in den Rang von Literatur und liest sich auch ein Vierteljahrhundert später noch radikal und modern. Eine Frau so konsequent in ihrem Denken, Fühlen und Erleben darzustellen, das war bis dahin einmalig und sucht bis heute seinesgleichen. 

Von der Literaturkritik wurde das jedoch im Erscheinungsjahr kaum gesehen und verstanden. Besonders vernichtend war »Das Literarische Quartett«, in dem »Verführungen« wenige Monate nach Veröffentlichung besprochen wurde. Was dort geschah, ist in verschiedener Hinsicht einen genaueren Blick wert:

Sigrid Löffler stellt kurz den Inhalt des Romans vor und nennt »Verführungen« einen Bildungsroman. Hajo Steinert, Gast in dieser Sendung, findet, das gehe zu weit, »ein weiblicher Bildungsroman kann es gar nicht sein«, die Handlung bleibe im Alltag stecken, es gehe ja nur ums Bügeln und Kochen. Sigrid Löffler weist darauf hin, dass die Banalitäten des Alltags ja gerade Thema dieses Romans seien. Es werde erzählt, warum Frauen es so schwer hätten, zu sich selbst zu kommen, nämlich auch, weil die Männer die Banalitäten des Alltags bei ihnen abladen. Marcel Reich-Ranicki stellt fest, die Natur habe es leider so eingerichtet, dass allen Ärger die Frau habe, die Schwängerung von Männern sei bisher noch nicht gelungen, was das Publikum derart amüsiert, dass Reich-Ranicki noch einen draufsetzt: Diese Autorin (sic!) zeige immer wieder, was für Kummer sie mit der Menstruation habe. »Ich möchte Sie auf etwas aufmerksam machen, Frau Löffler, nehmen Sie es mir nicht übel (Zeigefingergewedel): Die Menstruation ist nicht ein Werk der männlich dominierten Gesellschaft.« Das Publikum tobt, das Gespräch über »Verführungen« endet kurz darauf mit Reich-Ranickis Urteil, das Buch sei »sprachlich vollkommen minderwertig«, es habe »nichts Innovatorisches, wie manche behaupten«, und sei »der bare Primitivismus«. 

Frau Streeruwitz, als Ihr erster Roman erschien, kamen Sie vom Theater, hatten zuvor Hörspiele und Dramen geschrieben und inszeniert. Warum der Wechsel zum Roman und warum dieser Stoff?

Ich habe in den späten 70er und 80er Jahren immer schon Romane geschrieben, die alle in der Lade liegen und nicht veröffentlicht wurden und auch nicht veröffentlicht werden. Es ging mir eigentlich immer um den Roman. Das Hörspiel und das Theater waren der Umweg dorthin. Die Grundfrage des Schreibens ist ja immer die Frage des point of view, des Standpunkts, sei es in der Moderne oder der Vormoderne, und die hatte ich mir immer schon mit Bewusstseinsstrom beantwortet. Ich war aber nicht sicher in der Personenfindung. Das habe ich beim Schreiben von Dramen und Hörspielen gelernt, das war wie eine Lehrphase für mich, weil da so viele Einzelpersonen mit ihrem eigenen Wahrnehmungszentrum auftauchen. Beim Thema, dem brennenden Thema der Ungerechtigkeit, wie Frauen leben müssen, gibt es kein ästhetisches Begehren einer besonderen Art, sondern nur das Begehren der Gerechtigkeit. Das, was so gerne unter “weibliches” Schreiben abgelegt werden sollte, das ist politisches Schreiben aus der Minderheitenposition.

Ich habe »Verführungen« jetzt zum ersten Mal gelesen. Als der Roman erschien, war ich 24 und fühlte mich vermutlich einfach nicht angesprochen. Jetzt hat er mich vollkommen begeistert. Im »Literarischen Quartett« wurde er in die Tradition der Frauenliteratur der Siebzigerjahre gestellt und mit Karin Struck verglichen – allein, weil es hier wie dort um das Leben und den Alltag einer Frau ging. Wie haben Sie diese Literatur zur Zeit ihrer Veröffentlichung wahrgenommen?

Damit ist es mir gegangen wie Ihnen mit 24 mit »Verführungen«. Ich war gerade damit beschäftigt, Beauvoir zu lesen und das Klaffen zwischen Ist- und Soll-Zustand meines Lebens überhaupt mal in irgendeiner Form zu erfassen, da konnte ich diese Form von vollendeter Kritik nicht aushalten und wollte es auch nicht. Ich fand auch – als Literaturwissenschaftlerin gesprochen – den Abstand von der Autorinneninstanz zum Text nicht groß genug. Da wollte ich etwas anderes. Das ist ja die ganze Arbeit daran: eine Autorinneninstanz, die als sekundäres Wahrnehmungszentrum dahinter sitzt und es lenkt.

Die Rezeption wurde damals von Reinhard Baumgart eröffnet, dessen Kritik als Aufmacher der Literaturbeilage der ZEIT erschien. 

Ich habe damals gar nicht begriffen, dass das praktisch der Chimborazo war, wenn der Papst Baumgart das so hochhängt. Diese Päpste, die damals noch die Feuilleton-Herrscher waren, haben ja zugewiesen, was hohe Literatur ist. Und das Literarische Quartett war dann der böse Abschluss mit der Aussage: Es ist keine hohe Literatur. Das war ein Überlebenskampf, ob ich als Autorin danach überhaupt noch einen Atemzug tue. Damals, in diesen anderen Machtverhältnissen des Feuilletons, des patriarchalen Feuilletons, war das ein Krieg. Auf einem kleinen und unbedeutenden Feld, aber es war ein Krieg. Das kann ich heute so sehen. Damals war es erlitten. Ich stand plötzlich vor dem Nichts. Zumal das Theater sich neoliberal gedreht hatte und keine Texte dagegen mehr wollte, wie das überkommene Theater und das Neoliberale ineinander fielen.

Wie haben sich die Verkäufe nach dem »Literarischen Quartett« entwickelt?

Die sind nicht angestiegen, aber auch nicht abgefallen. Und das war natürlich ein Argument gegen mich. Unseld hat dann alles gebremst, der hat das sowieso gehasst. Mir war bald klar, dass ich da weg muss. Und begonnen hat das mit dem Quartett. Das hat das Argument dafür geliefert. Unseld hat diesen Text nie gelesen, da bin ich ganz sicher.

Seitdem erscheinen Ihre Werke im S. Fischer Verlag. Als 2004 Ihr Roman »Jessica, 30« herauskam, wurde es in vier der großen Feuilletons von vier Männern besprochen, durchaus nicht nur negativ, in deren Rezensionen sich aber immer wieder misogyne Abfälligkeiten finden. Liest man diese Kritiken heute, ist kaum zu glauben, wie unsachlich und ungehindert da rundum alles abgewertet wurde: der Anspruch, die Mittel, der Stil und die Person der Autorin gleich mit. 

Ja, das ist so. Das ist aber auch das fehlende politische Interesse der Frauen selbst. Da schreibt eben keine einen Leserbrief, da sagt niemand was, das wird einfach hingenommen. Der Hirte hat gesprochen und die weiblichen Schäfchen sagen, na ja, es ist halt wieder so, wie’s immer ist. Und das ist selbstverschuldet. Das beschert den Frauen, was jetzt ist, auch dass die Frauen das Homeschooling machen. Das muss dann so gelebt werden.

Waren die Rezensionen Ihrer jüngeren Romane weniger unsachlich?

Nun, erstens mal sind andere Generationen zum Zug gekommen, die anders gebildet sind. Die grundlegenden Mittel der Textkritik sind jetzt verbreiteter, die Voraussetzungen der Semiotik, des Strukturalismus, des Poststrukturalismus. Ich kann also damit rechnen, dass bestimmte Kunstmittel auch als solche erkannt werden. Das war vorher nicht möglich, weil die Germanistik es nicht geleistet hat. Mittlerweile brauche ich nicht mehr auf das hochbewusste Verständnis einer Frau hoffen, sondern kann damit rechnen, dass auch ein ausgebildeter Mann sich der Sache mit dem gebotenen Abstand widmet. Da gibt es ganz großartige Beispiele, Christian Metz, zum Beispiel. Das ist ein Glück. Was nicht erfreulich ist: dass diese Personen nicht mehr die Macht haben, wie sie Reich-Ranicki und Baumgart hatten.

Einerseits bedauerlich, dass die vernichtende Kritik von damals nicht mit demselben Gewicht ausgeglichen wird, andererseits gut, weil dieses patriarchale Machtsystem der Literaturkritik so heute nicht mehr besteht. 

Richtig. Ich hab mein Arbeitsleben jetzt fast hinter mich gebracht und habe nicht das  Gefühl, geschlagen worden zu sein. Das haben die nicht geschafft. Ich weiß aber auch nicht, ob es einen Sieg in der Sache gibt. Wenn’s ganz schlimm hergegangen ist und der Ausweg der Selbstvernichtung so verführerisch war, dann hab ich mir immer gesagt „Die dürfen dich nicht kriegen“, und „die“ sind so eine patriarchale Instanz, die sich in einzelnen Personen äußert. Das ist mir gelungen. Die haben mich nicht gekriegt. Aber der Triumph des literarischen Könnens – und das war eigentlich das Hauptziel –, der ist mir dadurch versagt geblieben. Also dass ich Literatur schreibe, dass ich im Besitz der Mittel bin und sie benutzen kann und dass das eine Höhe erreicht hat. Das ist ja ein Ereignis, das kulturell ist, das hat gar nicht so viel mit mir zu tun. Es ist ein Weg, der gegangen worden ist, und da gibt es jetzt Mittel, die könnten alles ausdrücken.

Ich muss nochmal nachfragen, weil ich das so anders wahrnehme. Sie meinen, dass Ihnen die Anerkennung versagt geblieben ist, »hohe Literatur« zu schreiben?

Ja.

Das ist meine Wahrnehmung überhaupt nicht.

Nein, da sind wir jetzt auf unterschiedlichen Ebenen. Also, ich bin von Geschwisterrivalität beherrscht, ich komme aus einer Sechs-Kinder-Familie mit vier Brüdern, und die Frage ist: die Beste oder der Beste. Das meine ich. Es gibt noch immer keinen Raum, in dem Unparteilichkeit erreicht wird, das wird immer noch vom Vornamen beherrscht. Sonst ist das schon alles großartig, gar keine Frage. Aber auf einer basalen Gerechtigkeitsebene stimmt es immer noch nicht.

Oberflächlicher betrachtet finde ich heute doch sehr klar, dass Sie inzwischen gerechtfertigt wurden, und dass, was in diesem »Quartett« stattfand, im Grunde furchtbar war, professionell betrachtet, aber auch menschlich. Nur Sigrid Löffler hat Ihren Roman verteidigt.

Ja, das stimmt schon, es ist immer noch erstaunlich. Aber es ist ja auch immer ein Signal, dass es gefährlich ist, sich vorzuwagen. Das war der Versuch der Vernichtung, und das treibt Personen beiderlei Geschlechts in die falsche Richtung. Und ich hoffe ja immer, dass ganz sanfte, zurückhaltende oder bedrückte Personen zum Schreiben greifen und sich äußern. Nicht, dass diese Vernichtungsenergie viele Menschen davon abhält, uns mit ihrer Literatur zu beglücken. Diese Schüsse vor den Bug sollen ja decouragieren, und darin ist es auch verantwortungslos. Es stellt einen Raum her, in dem wiederum nur die Helden auftauchen dürfen. Und die Frau Löffler hat teuer bezahlt für ihren Einsatz, die Häme war ja groß gegen sie. Was noch interessanter ist: Argumentativ hat sie eigentlich gewonnen, und trotzdem hat sie den Sieg nicht bekommen. Und diese Geschlechterpolitik ist nicht verschwunden. Das meine ich mit der Beste.

In diesem Jahr erhalten Sie den Preis der Literaturhäuser.

Diesen Preis betrachte ich als eigentliche Bestätigung meiner Arbeit. Dass diese Gruppe von so verschiedenen und verschieden gesinnten Personen sich darauf einigen konnte, das ist wahrscheinlich das, was an Sieg möglich ist. Und das ist wunderbar und beruhigend.

Eigentlich hätte zu dem Preis eine umfangreiche Lesereise gehört, die in diesem Frühjahr hätte stattfinden sollen. Dann kam alles anders, sämtliche Veranstaltungen wurden abgesagt. Nun schreiben Sie seit März an Ihrem »Covid19-Roman«, der die aktuelle Krise direkt reflektiert und fiktionalisiert, und den Sie online in Fortsetzungen veröffentlichen. 

Sich in die Zeit zu werfen und über die Erfahrungen davon zu berichten, das ist eine der Aufgaben von Literatur, und sollte auch von den Institutionen und vom Staat angefragt werden. Eigentlich sollten wir alle sitzen und solche Texte schreiben, damit wir auch noch in einem halben Jahr wissen können, was es gewesen ist. Das wäre das, was Literatur sein sollte für mich: Der Bericht vom Leben.

Auf die Frage »Ist der Feminismus für Sie gescheitert?« haben Sie in einem SPIEGEL-Interview 1996 geantwortet, es sehe heute so aus. Die Chance, den Kurs zu ändern, die es in den 70er Jahren gegeben habe, sei vertan worden. Schätzen Sie die Lage gut zwanzig Jahre später anders ein?

Nein. Das Versäumnis der 70er Jahre müssen Sie in Ihrem Leben jeden Tag reperformieren. Das ist so. Und dass es keinen Willen gibt, sich da neu aufzustellen, liegt eben auch an dem Herdendasein der Frauen, das wiederum von der Erpressung ins Jetzt-Leben-Müssen über die Kinder in noch ganz anderer Weise betroffen ist. Es hat seine Gründe, warum das gelingen konnte. In der Corona-Krise haben sich diese Strukturen ja wieder sehr deutlich gezeigt. Aber vielleicht ist das eine Chance, das neu anzudenken. Kulturell. In Deutschland wie in Österreich sind die gesetzlichen Grundlagen ja vorhanden, sind Frauen etwas anderes als ich, die noch unter dem code civil aufgewachsen ist und einen Hausvater zu erwarten hatte als Ehemann. Dass es nicht gerecht zugeht, ist etwas Kulturelles, und von da aus kann man vielleicht noch mal ganz anders vorgehen. Das Besprechen von diesen historischen Vorgängen ist der erste Schritt. Auch, wenn wir diesen Schritt nun zum x-ten Mal wiederholen müssen.

Ich bin ein bisschen optimistischer. Ich kenne inzwischen so viele Frauen, die auf einer gerechteren Aufgabenverteilung bestehen, wenn Kinder da sind, und die die Konsequenzen ziehen und gehen, wenn die Väter ihrer Kinder nicht bereit sind, sich zu bewegen. 

Ja, aber sie müssen es dann leben. Als Alleinerzieherin kann ich sagen, das waren wunderbare Jahre mit meinen Töchtern, ich möchte diese Intimität, die mit ihnen allein möglich war, nicht einen Augenblick missen. Trotzdem kann ich nicht sagen, dass das die richtigen Voraussetzungen waren. Es ging nicht gerecht zu. Wir schaffen das alles trotzdem wunderbar, das müssen wir auch mal sagen, das ist schon richtig, aber wir schaffen es eben trotz der falschen Voraussetzungen. Ich hoffe – inzwischen für meine Enkelkinder –, dass endlich Generationen aufwachsen, die nicht von diesen Umständen traumatisiert wurden. Das wäre doch das Ziel: nicht traumatisierte junge Frauen. Oder junge Männer. Was das ist, wissen wir gar nicht. Darauf freue ich mich.

Frau Streeruwitz, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

 

Das Gespräch führte Nicole Seifert telefonisch am 23. Mai 2020.
Copyright Foto Marlene Streeruwitz: Heribert CORN

Nicole Seifert ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und arbeitet nach mehreren Jahren in den Lektoraten verschiedener Buchverlage seit 2010 als freie Autorin und Übersetzerin in Hamburg. Ihr Literaturblog www.nachtundtag.blog hat 2019 vom Börsenverein des deutschen Buchhandels den Preis für den besten Buchblog erhalten.