Veranstaltungsschwerpunkt
Zu wenig gesprochen wird derzeit sicher nicht. Doch nicht die schiere Menge thesenhafter Ausrufe oder affektiver Zuspitzungen macht‘s. Die Tonlagen entlang zahlreicher gesellschaftlicher, politischer Konfliktlinien sind bisweilen unerbittlich, Wertungen allzu schnell gefällt, sensibel aufgebaute und über lange Zeit gepflegte Allianzen werden porös oder zerbrechen, Gespräche versiegen. Die starken Emotionen basieren dabei häufig auf realen Erfahrungen von Ausgrenzung und Abwertung, wie sie sich z.B. im Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus zeigen.
Die Mitglieder des Netzwerks der Literaturhäuser möchten dem Reinheitsgebot von „richtig“ und „falsch“ graugestufte Mehrdeutigkeiten zur Seite stellen, möchte unseren schnellen Urteilen den großherzigen Zweifel anhängen. Wie schwierig das ist, zeigen uns die zunehmend polarisierten Debattenkulturen und unbarmherzigen Positionierungsforderungen. Wie es indes gehen könnte, zeigen uns die Literaturen der Welt, zeigen uns Räume des Zuhörens.
Deshalb stellen wir ab sofort auf dieser Seite Veranstaltungen aus den Programmen der Literaturhäuser vor, die am Miteinandersprechen festhalten. Wir möchten Autorinnen und Autoren vorstellen, die sich einlassen, auch wenn es manchmal schwierig ist, die zuhören, auch wenn es schwer fällt, die mit dem Willen zum wechselseitigen Abwägen den Faden nicht abreißen lassen wollen.
Und wir möchten das Publikum einladen, anderen Perspektiven zu folgen, eigene Positionen zu hinterfragen, ins Gespräch zu gehen, in den Veranstaltungen oder danach und somit den Zweifel, die Offenheit lebendig zu halten und Mehrdeutigkeiten Raum zu geben. Viele Veranstaltungen sind auch als Streams verfügbar, bitte kurz nachschauen!
Aktuelle Veranstaltungen
29.4.25 – Julia Friedrichs – Crazy Rich
www.literarisches-zentrum-goettingen.de
Tag der offenen Tür bei den vermögendsten Familien? Julia Friedrichs ist es gelungen, ins Gespräch mit Superreichen zu kommen, die bisher unbekannte Einblicke in ihre Welt voller Steueroasen und Luxusjachten gewähren. In der eindringlichen Reportage Crazy Rich (Berlin Verlag 2024) widmet sich die Journalistin und Autorin der Frage, wie viel Ungleichheit eine demokratische Gemeinschaft eigentlich verträgt. Müssen wir dem Reichtum Grenzen setzen, wenn in Deutschland 3.300 Menschen fast ein Viertel des gesamten Finanzvermögens besitzen? Oder ist Vermögen eine Privatangelegenheit? Gemeinsam mit SOFI-Direktor Berthold Vogel fragt sich Friedrichs, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen.
29.4.25 – Luftwurzeln // Aerial Roots
www.
Readings and table talks with Tatev Chakhian, Lal Laleş, Evgenia Lopata, Birgül Oğuz, Iryna Shuvalova, Żanna Słoniowska and Jean-Chat Tekgyozyan
Artistic intervention: Miji Ih and Hara Shin
Writing in a foreign language environment is a reality for a growing number of writers, whether it was freely chosen or forced upon them by flight and exile. Can they achieve linguistic nourishment, as some orchid and mangrove species do, through the development of ›aerial roots‹? We have invited seven writers from Armenia, Turkey, and Ukraine to the LCB to reflect on the topic from their perspective and to report on their writing practices. This will take place in our virtual Villa Of One’s Own (www.vooo.space) and that evening in person at a joint dinner where the newly written texts will be presented. In addition, Miji Ih and Hara Shin, two Korean artists living in Berlin, will present the concept that gave the project its name.
Schreiben in einer fremdsprachigen Umgebung – für eine immer größere Zahl von Schriftsteller∙innen ist das eine Realität, egal ob sie frei gewählt oder durch Flucht und Exil aufgezwungen wurde. Kann die sprachliche Nährstoffaufnahme, manchen Orchideen- und Mangrovenarten gleich, durch die Ausbildung von Luftwurzeln gelingen? Wir haben sieben Autor∙innen aus Armenien, der Türkei und der Ukraine ins LCB eingeladen, das Thema aus ihrer Perspektive zu reflektieren und von ihrer Schreibpraxis zu berichten. Das geschieht zum einen in unserer virtuellen Villa of One’s Own (www.vooo.space), und an diesem Abend bei einem gemeinsamen Essen, wo neu entstandene Texte vorgestellt werden. Begleitend dazu stellen Miji Ih und Hara Shin, zwei in Berlin lebende koreanische Künstlerinnen, ihr Konzept vor, das für das Projekt namensgebend war.
5.5.25 – Svenja Flasspöhler – Streiten
literaturhaus.ch
Warum lohnt es sich zu streiten, was heisst Streit überhaupt (im Gegensatz zum Diskurs) und welche Regeln sollten eingehalten werden, damit der Streit nicht in Verletzung oder Schlimmeres kippt? Warum geht es beim Streiten um Macht und was hat das mit Gewalt zu tun? Welchen Einfluss hat die Digitalkultur auf unsere Streitkultur und welche Rolle spielt Streiten in unserer Demokratie? Die Philosophin Svenja Flasspöhler – selbst als streitbare Persönlichkeit bekannt – nähert sich in ihrem aktuellen Buch «Streiten» einem Thema, das uns alle betrifft und immer wieder Mut erfordert. Moderation: Nicola Steiner. Der Abend ist auch live im Stream zu sehen.
12.5.25 – Israel, 7. Oktober. Lee Yaron im Gespräch mit Sandra Gugić
lcb.de
In ihrem neuen Buch erzählt die israelische Journalistin Lee Yaron von den letzten Stunden der Menschen, die am 7. Oktober 2023 ermordet wurden. »Israel, 7. Oktober« (mit einem Nachwort von Joshua Cohen, S. Fischer, 2024) ist das Protokoll eines Tages, der in die Geschichte Israels, des Nahen Ostens und der ganzen Welt eingehen wird, und ein literarisches Denkmal für die Opfer – ausgezeichnet mit dem National Jewish Book Award 2024, übersetzt von Sigrid Schmid, Cornelia Stoll und Maria Zettner. Mit Lee Yaron spricht die Autorin Sandra Gugić, die nach drei Jahren in Israel nun wieder in Berlin lebt. Vergangenen Herbst erschien »The In-Between« (Ü: Jo Frank, Verlagshaus Berlin), ein gemeinschaftlicher Text, der von Vielfalt lebt: Lily Shehady, Sarah Sassoon und Sandra Gugić, die vordergründig nur eint, dass sie in Israel leben, begegnen sich in Gedichten und lyrischen Essays über vermeintliche Grenzen hinweg: nationale, religiöse, sprachliche, kulturelle.
14.5.25 – Julia Yael Alfandari & Lena Gorelik – »Trotzdem sprechen«
www.literarisches-zentrum-goettingen.de
Die greifbarste Utopie unserer Zeit liegt im Dialog – so herausfordernd er auch ist. Davon sind die Macher:innen des Sammelbandes Trotzdem sprechen (Ullstein 2024) überzeugt. Doch seit dem 7. Oktober, dem Hamas-Massaker in Israel und der Bombardierung Gazas, versiegen Gespräche, zerbrechen Allianzen, fehlen Mut und Toleranz für schmerzhafte Begegnungen. Von den Verhärtungen, von Antisemitismus und Rassismus profitiert aber vor allem einer: der Rechtspopulismus. Die Autor:innen stellen sich dem entgegen und suchen weiter das Gespräch – nachdenklich, aber entschlossen. Herausgeberinnen, Lena Gorelik, und Beiträger:in Julia Alfandari sprechen mit dem Journalisten Christian Röther über unsere Zeit.
17.6.25 – Svenja Flaßpöhler & Bernhard Pörksen – Streiten & Zuhören
www.literarisches-zentrum-goettingen.de
Harter, fairer Streit will gelernt sein – ehrliches Zuhören aber auch. An diesem Abend erkunden die Philosophin Svenja Flaßpöhler (Streiten, Hanser Berlin 2024) und der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (Zuhören, Hanser 2025) das Spannungsverhältnis zwischen Konfrontation und Dialog und fragen nach dem richtigen Rüstzeug: Was braucht es für gute Auseinandersetzungen, was braucht es zum Zusammensetzen? Im Gespräch über ihre Bücher diskutieren sie, wie man eigene Standpunkte mutig verteidigt und dennoch Offenheit sowie Verständnis für andere Perspektiven bewahrt. Ein Abend, der neue Wege für einen konstruktiven Meinungsaustausch eröffnet, moderiert von Freundschaftsforscher Janosch Schobin.