Sommerakademie 2012: Die Blogtexte


Paul von Mikulicz-Radecki

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„Vielleicht kann man mit dem Verkauf von Drogen viel Geld verdienen, aber so ein Geld will ich nicht“. Der siebzehnjährige Samir Tahimi stammt aus Afghanistan. Seit anderthalb Jahren lebt er als Flüchtling in München. Er ist einer von 14.000 Flüchtlingen, die sich in Deutschland aufhalten. Mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen sich täglich tausende Menschen auf den Weg nach Europa. Sie geben Besitz und Familie auf, für ein vermeintlich besseres Leben. Weltweit gibt es 44 Millionen von ihnen.

In München gibt es die größte afghanische Gemeinde in Deutschland. Samirs ältere Brüder leben auch hier. Seine Tante verkauft vor zwei Jahren ihren Besitz, um Samir die Flucht nach Deutschland zu ermöglichen. Ob sie noch lebt, weiß Samir nicht. „Meine Mutter hatte niemanden mehr in Afghanistan, die Taliban leider hat meinen Vater mitgenommen“. Eine unangenehme Stille entsteht. Samir berichtet von den Anfängen seiner Flucht. Mit Bruder und Mutter flieht der damals Vierjährige aus Kabul zu seiner Tante in den Iran. 10 Monate nach der Flucht stirbt seine Mutter, den Grund des plötzlichen Todes kennt Samir nicht. Vollwaise im Alter von fünf Jahren. Nach zehn Jahren illegalen Aufenthalts im Iran, fasst er den Entschluss seinen Brüdern zu folgen. „Ich wollte weiter Bildung machen, ich wollte etwas lernen, im Iran konnte ich nicht zur Schule“.

Samir lebt gemeinsam mit sieben Jugendlichen aus vier Nationen in einer Wohngemeinschaft in einem Außenbezirk von München. Er zeigt sein Zimmer. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Kühlschrank und einen Laptop. Sie leben hier sehr selbständig in einer der drei Gemeinschaftswohnungen des Vereins für Gesellschaftliche Projekte e.V.. Das Engagement des Vereins zielt auf eine tolerantere und sozial gerechtere Gesellschaft. Knapp 400 Euro bekommt Samir im Monat, die er für Kleidung und Essen ausgibt. Shirt, Hose und Schuhe passen zusammen. Samir achtet auf sich. Die Betreuer kommen zweimal pro Woche in die WG, sie übernehmen die elterlichen Funktionen, gehen mit ihren Schützlingen zum Arzt oder helfen ihnen bei den Hausaufgaben.

Maschhad, zweitgrößte Stadt im Iran. Dies ist die erste Station für afghanische Flüchtlinge, die nach Europa wollen. Neun Stunden dauert die Fahrt von Kabul nach Maschhad. Der Weg nach Ankara erweist sich als komplizierter. Zwei Tage verbringt er im Pontischen Gebirge östlich von Ankara. „Wir waren zu siebt, vier Afghanen und 3 Pakistani“, erzählt Samir. Drei Tage bleibt er in Ankara. Ein Bus bringt die Gruppe bis an die Küste Griechenlands. Es ist die gefährlichste Etappe auf Samirs Route, denn als Transportmittel dient ein aufblasbares Schlauchboot. Nach zwei Stunden auf dem offenen Meer erreichen sie ohne Zwischenfälle eine griechische Insel, an dessen Namen sich Samir nicht mehr erinnern kann. Das nächste Ziel der Gruppe ist Athen. Sie haben zu wenig Geld, bitten den Busfahrer um eine Vergünstigung. „Ein guter Mann, wir haben ihm gesagt, dass wir zu wenig Geld hatten, und er hat uns trotzdem mitgenommen“, sagt Samir lächelnd. Die meisten Menschen, mit denen Samir auf seinem Weg in Kontakt kommt, sind tolerant im Umgang mit den Flüchtlingen.

Vier Monate bleibt Samir in Athen. Auf die Zeit in Griechenland blickt er nicht gern zurück. „Es gab ungefähr 21, 22 Leute in dem Zimmer, ohne Matratzen, nur ein paar Teppiche und fertig“, erinnert sich Samir. Er will weiter, doch für den direkten Weg mit dem Flugzeug hat er nicht genügend Geld. Er entscheidet sich für den Umweg über Italien. „Ich bin 30 Stunden in dem LKW gefahren, es war stickig und wir hatten nur wenig Wasser.“ In Vicenza angekommen, kauft Samir ein Ticket nach Rom. „ Da gab es so eine U-Bahn und da konnte man schlafen“, erinnert sich Samir an die Zeit in den Straßen Roms. „In Rom gab es auch ein Heim, aber wenn ich wollte da schlafen, dann müsste ich Finger abdrücken.“ Samir kennt die Regeln und er will nicht in Rom bleiben, hier hat er niemanden. Laut der Dublin II-Verordnung ist das Land, welches den Flüchtling erstmals registriert, für dessen Asylverfahren zuständig. Nach fünf Tagen in Rom nimmt Samir den Zug nach Salzburg. Die direkten Züge nach München werden häufig von Grenzbeamten kontrolliert. Das Risiko will er nicht eingehen.

Sonntag Abend, Herbst 2010, München Hauptbahnhof. Samir hat es geschafft. 9239 Kilometer und ein halbes Jahr liegen zwischen seinem Aufbruch in Afghanistan und seinem jetzigen Aufenthaltsort. Er ruft seinen Bruder, bei dem er vorerst wohnt. Ein Anwalt regelt Samirs Asylverfahren, er ist nicht illegal in Deutschland. Nun müsste man denken, dass Samir endlich ein normales Leben führen kann. „Vier Monate habe ich mit meinem Bruder gewohnt, aber er ist nicht ganz normal, er ist ein Alkoholiker.“ Zudem ist Samirs Bruder hoch verschuldet. Er weiht seine Lehrerin ein. Sie vermittelt ihn weiter in ein Jugendhotel und von dort aus führt in sein Weg in die WG.

Samirs Fleiß und Wille sind groß. Er ist seit jetzt anderthalb Jahren in Deutschland, sein Deutsch ist flüssig, nur mit dem Satzbau hat er noch kleinere Probleme. Mit Drogen will er nichts zu tun haben. „ Ich trinke gar kein Alkohol.“ Wie sein Bruder enden, will Samir nicht. Automechaniker möchte er werden, bei BMW oder Mercedes, nicht bei einem kleinen Betrieb. Er schaut deutsche Filme, um sein Vokabular zu verbessern. „Samir ist so ehrgeizig, dass er vergisst, seine zwischenmenschlichen Beziehungen zu pflegen, immerzu sitzt er in seinem Zimmer und lernt“, erzählt die Betreuerin Sabine Ankenbrank. Samir hat seinen Hauptschulabschluss mit einem Durchschnitt von 1,5 gemacht. Die beste Prüfung schrieb er in Deutsch. Nächstes Jahr will er seine Mittlere Reife machen.


Julia Mirjam Cantuária

Afghanistan – Iran – Rosenheim – München

„Wenn ich zurückgehe, bin ich tot.“

Hamid Azizi sieht auf den Tisch und spielt mit seiner Sonnenbrille. Seit zweieinhalb Jahren ist er in Deutschland und sein Deutsch klingt schon perfekt. Er ist kein Asylwerber, der einfach nur Arbeit suchte. Als 16 jähriger Flüchtling wurde Hamid in Rosenheim, einer kleinen Stadt in Bayern, aufgegriffen. Es war die zweite Flucht aus einem Land, wo er sich ein zu Hause aufgebaut hatte. Im Alter von vier Jahren floh er mit seiner Familie von Afghanistan in den Iran. „Sie sagten, dass Schiiten keine Muslime sind und sie sie deshalb töten müssen.“

Er wurde in der Zeit geboren, als sich die Taliban formierten und besaß deshalb keine Dokumente. Im Iran war das ein Problem und so wollte man ihn nach Afghanistan abschieben. Ihm blieb nur ein Weg – die Flucht.

350.000 Ausländer gibt es in München – das sind alle, die nicht „deutsch“ sind. 53.000 Ausländer mit Asylantrag waren es 2011 in ganz Deutschland – und nur 1,5% wurden als Flüchtlinge anerkannt. Die Hälfte der Flüchtlinge in München sind wie Hamid Afghanen.

„Ich wollte nach Europa – egal wohin.“

Mit einem LKW brachte man ihn in die Türkei. In einem Zimmer wartete Hamid – wie lange, weiß er nicht. Männer mit Waffen kamen und er fuhr mit einem Schlepper nach Deutschland. „Als ein Polizist mich festnahm, fragte ich „Wo bin ich?“ Und er sagte „Deutschland“. Erst da erfuhr ich, wo ich war. Die Beamten waren unfreundlich, vier ganz große. Sie wollten mich schlagen.“ Nach einer Nacht in der Zelle wohnte er eine weitere in der „Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge“. Von dort vermittelt das Jugendamt ihnen einen Vormund. Wenn die Flüchtlinge ein zu Hause haben, werden dann Ziele mit den Jugendlichen erarbeit. Zum Beispiel Deutschunterricht, Aggressionen in den Griff bekommen, einen Sportverein besuchen. Jedes halbe Jahr wird geschaut, ob die Ziele erreicht wurden. Hamid begann wie andere vor ihm mit einem intensiven Deutschkurs. Den beendete er schon nach fünf Monaten statt den üblichen zwei Jahren und war dann ein Jahr beim SchlaUprojekt. Das SchlaUprojekt ist eine Schule, die Flüchtlinge auf den Hauptschulabschluss vorbereitet.

Bis die Jugendlichen volljährig sind, wohnen die meisten zusammen mit anderen Flüchtlingen in einer WG. In dieser sind nicht nur Ausländer zu finden, sondern auch deutsche Jugendliche mit sozial-schwierigem Hintergrund.

„Wir Sozialarbeiter sind wie eine Art Ersatz Familie. Ein Somalier sagte einmal zu mir: Du Mama, du Papa, ihr Bruder und Schwester“, so Diplom-Sozialpädagogin Sabine Ankenbrank lächelnd. Sie war die Betreuerin von Hamids WG in Gern. Zusammen mit weiteren sieben Flüchtlingen lebten sie sehr eigenständig und sahen die Betreuer nur am Abend.

„Es lief nicht immer alles happy, happy, aber wir versuchten, gegenseitig unsere Geschichten zu verstehen. Am Anfang gab es eine Zeit, wo man sagte, dass es nicht gut läuft. Aber wenn ich jetzt zurück denke, war es eine schöne Zeit.“

Einer der Bräuche in Hamids WG ist, immer wenn ein „Neuer“ kommt, kochen die Anderen für ihn. Da entsteht ein Mix aus den verschiedensten Nationalgerichten. „Am öftesten kochte aber ein afghanischer Freund von mir“, erzählt Hamid. „Er konnte es einfach am Besten.“ Wegen seiner Ausbildung zum IT Kaufmann ist Hamid viel beschäftig. Deshalb findet heute sein Abschiedsessen mit einem Jahr statt. Afghanische Küche natürlich.

Wenn man Hamid jetzt fragt, was er sich noch wünscht, gibt es drei Dinge:

„Gesundheit für mich und meine Familie, dass ich meine Ziele erreiche und dass ich sie im Iran besuchen kann.“

Vor seiner Flucht hat er seine Mutter und seine drei Geschwister zuletzt getroffen. „Mein Vater ist vor sechs Jahren nach Afghanistan gegangen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.“

Hamid sitzt auf einer der zwei Holzbänke im Garten der WG. Er trägt ein blaues T-Shirt und eine beige Hose. „Die Hochschulreife erreichen, auf der Uni Bauingenieurwesen oder Informatik studieren und dann arbeiten gehen.“ Das sind seine Pläne für die Zukunft.


Theresa Reithmann

Heim(at)spiel

Die Idee ist zu groß. Das Büro von Rüdiger Heid wird bald platzen. Wie ein Ball, der zu fest aufgepumpt wurde.

Kaum jemand passt noch in das ehemalige Feuerwehrhaus in der Ganghoferstraße. Vier Trainer stehen im Gang. Einige Jungs kommen nur kurz rein, um „Papa Rudi“ mit Handschlag zu begrüßen. Dann gehen sie auf den Platz. Kicken. Rüdiger Heid scheint der Trubel nichts auszumachen. „Wir wollen ja allen die Türen offen halten hier“, sagt er. Trotzdem soll die Verwaltung seines Projektes „BuntKicktGut“ (BKG) bald in ein größeres Gebäude umziehen. Es braucht Platz, über 100 Teams mit mehr als 1000 Jugendlichen zu verwalten. „Wobei“, sagt Rudi , „sich die Teams weitestgehend selbstständig organisieren. Das funktioniert. Jeder kann mitmachen.“ Sechs Leute müssen sich gemeinsam anmelden, zwölf sollten maximal eine Mannschaft bilden. Die Mannschaften trainieren in Parks, oder auf der Straße – dort wo sie sowieso schon spielen würden. Mit einem Zusatzaspekt: BKG organisiert Turniere unter den Mannschaften, stellt Trikots. Die Spiele finden an den Trainingsplätzen statt und

für die Teilnehmer gibt es verschiedene Preise. Unter anderem zeichnet BKG die besten Gastgeber eines Turniers aus. Dabei ist der gewählte Ort nicht wichtig – „oft laufen die besten Turniere vor Garagen ab.“ Hauptsache die gastgebende Mannschaft organisiert gut. Es sei wichtig, die Jugendlichen ernst zu nehmen. Sie sollen das Gefühl haben, professionellen Fußball zu betreiben. „Viele sind sehr ehrgeizig. Viele sind gut. Wir gliedern auch in Vereine ein, denn da sind echte Talente dabei.“

Ein Junge begrüßt Rudi. Er ist schmächtig, sieht viel auf den Boden. Aftab sei so ein Talent, sagt Rüdiger Heid und klopft ihm auf die Schulter. „Ich trainiere die U13 und U15“ sagt Aftab. Er selbst ist 14. Spielt bei den „Arnulf Lions“ und im TSV Forstenried. Er spricht ganz leise. Kein Anführertyp. „Das Training funktioniert ohne Rumbrüllen“, sagt Heid. „Was ich den Kids vermitteln will, ist Respekt. Jeder fühlt sich als Individuum.“

Am Grundprinzip hat sich seit 1997 nichts geändert. Damals hat Rüdiger Heid in einem Flüchtlingsheim gearbeitet. „Es gab da diesen einen Jungen. Der hatte alle Kids dermaßen in der Hand. Ich wusste, wenn ich ihn knacke, hab ich alle. Geködert hab ich ihn schließlich mit Fußball. Die Idee hat prima funktioniert.“ Sport kann bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse helfen. Außerdem als eine Art Ventil. „Alles rauslassen ohne jemandem zu schaden. Ich mag die frechen Straßenkids. Die ganz gewieften. Sie müssen nur korrekt bleiben. Und BKG hilft dabei.“ Eine große Hilfe beim „Korrektbleiben“ ist der Ligarat. „Was nicht geht, sind schlimme Ausdrücke auf dem Platz sowie außerhalb vom Feld. Bei einem Verstoß muss ein Entschuldigungs-Brief an den Rat geschrieben werden.“ Es geht ihm um Respekt.

Konflikte gibt es trotzdem. Mit Rassismus hat BKG aber nie Probleme gehabt. Die Jungs und Mädchen kommen insgesamt aus 80 verschiedenen Ländern. „Das spielt für die Kinder absolut keine Rolle. Sie gehen hierher um zu kicken, nicht, weil das ein tolles Integrationsprojekt ist. Dass nicht alle aus dem selben Land sind, ist kein Thema. Deutschland ist schließlich auch nur eine Nation unter vielen.“

Zum Training erscheint der zwölfjährige Alexis. Seine Mutter kommt aus Frankreich, der Vater stammt aus Berlin. Alexis geht auf die französische Schule. „Ich fühl mich mehr als Franzose, bin aber auch hier daheim. Ich hab viele Freunde bei BKG auch wenn nicht alle hier dieselbe Sprache sprechen.“ Das sei beim Sport kein Problem. Viele lernen hier gut Deutsch.

„Die Jungs vom Harras sind Rudis Team.“ sagt Alexis. Rudi schmunzelt. Er trainiert niemanden. „Manche sind neidisch, weil ich zum Harras Team einen besonderen Bezug hab. Schließlich kam die erste Mannschaft daher.“ Ein Junge im Park nebenan hat deshalb aufgehört, bei BKG zu spielen. „Rudi bevorzugt die. Einmal hat er bei einem Turnier einen Punkt der Gegner nicht gezählt, damit die vom Harras besser dastehen.“ Außerdem sei ihm die ganze Institution zu teuer. 30 Euro pro Saison, nächstes Jahr vielleicht 60.

BKG finanziert sich hauptsächlich durch Sponsoren. „ Aber die Teilnehmergebühr hat was Offizielles“, sagt Heid. „Die Kinder sollen ihren Preis haben. Sie nehmen das dann ernster.“

Im Juli findet eine Woche Sommercamp statt. 30 Spieler reisen gemeinsam nach Polen. Die Nachfrage ist groß, es gab schon Reisen nach Afrika, Kroatien, Prag. „Ein Weg, internationale Kontakte zu knüpfen sind Turniere dort. Oft haben wir auch Gäste hier, die im Sitzungsraum übernachten.“ In dem beten sonst auch die Muslime bei BKG. „Viele machen Ramadan. Sie trinken nichts und müssen aufpassen beim Sport in der Hitze. “ Ansonsten spielen Religion und Herkunft keine Rolle. Der mehrfach prämierte Aspekt der Toleranz und Integration ist so selbstverständlich involviert, dass sich die Frage nach Zughörigkeit für niemanden stellt.

Der Ansatz des Projektes ist Disziplin. Respekt. Nicht zuletzt Verantwortung. Derweil ist es doch nur Fußball.


Lara Hampe

Fastenbrechen um 20 Uhr 54

Während des Ramadans darf zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang nichts gegessen und nichts getrunken werden. Im muslimischen Zentrum in München halten sich alle daran. Ein Gespräch mit Hajar Dhahn.

„Manchmal hängen an unseren Fenstern Bilder von nackten Menschen“, sagt Hajar Dhahn und streicht ihr Kopftuch zurecht. Sie spricht vom islamischen Zentrum München, am Stadtrand bei Fröttmanning. Nach dem 11. September sei so etwas dauernd passiert, Schmierereien an den Außenwänden, eingeschlagene Scheiben und eben Fotos von nackten Menschen, die „uns mit Kopftuch wohl schockieren sollen“. Inzwischen hat es sich etwas beruhigt, Gottseidank, sagt sie. Dass oft islamisch mit terroristisch gleichgestellt wird, kann sie nicht verstehen.

Hier treffen sich täglich viele Muslime und halten gemeinsam Gottesdienste auf Arabisch ab- wer die Sprache nicht kann, verfolgt die deutsche oder türkische Übersetzung auf Kopfhörern.

Groß ist die Anlage nicht, Moschee und Büroräume, ein Hof so groß wie ein Tennisplatz- trotzdem treffen sich hier jeden Tag etwa hundert Muslime und beten gemeinsam. Vor allem während des Ramadans, der muslimischen Fastenzeit, gibt es größeren Zulauf als bei anderen Münchener Moscheen. Beim Zuckerfest, am 29. Und 30. Tag des Fastenmonats, zählt die Gemeinde 7000 Besucher.

Schon davor bricht man hier abends gemeinsam das Fasten, isst, lacht und trinkt an langen Bierbänken, auf denen sich Tablett an Tablett reiht. Die Menschen hier stammen aus 27 verschiedenen Ländern, alte und junge, Männer und Frauen treffen hier aufeinander.

„Oft kennt man sich auch gar nicht persönlich, weil die Gemeinde so groß ist.“ Freundinnen hat Hajar Dhahn hier jedoch schon gefunden, aus Deutschland und Mauretanien kommen sie. Hajar ist 26 Jahre alt und kommt aus Tunesien. Vor zehn Jahren ist sie mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen, sie ist glücklich hier und lächelt, wenn sie von ihrem Glauben spricht. Sie studiert Jura an der LMU, das könne man gut verbinden mit ihrer Religion, sagt sie.

Der Islam ist eine Religion mit Ordnung, hier steht man zum Beten auf geradlinigen Mustern auf dem Teppich, die Schuhe müssen davor ausgezogen werden, Männer beten unten, Frauen oben auf der Empore. Zum Sonnenuntergang, heute um Punkt 20 Uhr 54, schiebt sich Hajar eine Dattel in den Mund, dann wird gebetet, das vierte Mal heute. Sie steht mit gesenktem Kopf in der kleinen Moschee und hebt die Hände vor die Brust. Der Mann vorne singt arabische Suren.

Ihr geht nichts ab in ihrem Leben, in dem Allah in jedem Moment gegenwärtig ist. Alkohol, Partys und das klassische Studentenleben, darauf könne sie verzichten, „den Spaß hole ich mir woanders“.

Verzicht ist vor allem in diesem Moment ein großes Thema, während des Ramadans darf man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang weder essen noch trinken, da ist es egal, ob eine Ecke weiter ein Fastfoodrestaurant 24 Stunden am Tag geöffnet hat. „Natürlich ist das manchmal schwer, vor allem wenn der Ramadan in den Sommer fällt und es heiß ist.“

Der Kebapverkäufer am Hauptbahnhof lässt deshalb das Fasten ausfallen: „Vor meinem Job hier als Dönerverkäufer habe ich es immer gemacht, aber in der Hitze schaffe ich das nicht mit meinem Bronchitis.“ Wenn ein Arzt das bestätigt darf man das, so steht es im Koran.

Vor jedem Gebet muss man sich den Mund auswaschen, da sei die Verlockung immer besonders groß, trinken darf man das Wasser ja nicht. Auch Wut, Geschlechtsverkehr und Zigaretten sind verboten. Das falle Hajar aber leichter, sie sei ein glücklicher Mensch und unverheiratet, rauchen würde sie auch nicht.

Für Allah auf das alles zu verzichten, sei wie das für einen geliebten Menschen zu tun. „Das ist wie wenn du mit deinem Freund zusammenziehst, da passt du dich an, das tust du für ihn.“

Für die Zukunft wünscht sich Hajar nicht viel, sie freut sich auf ihr Leben als Hausfrau, hofft, dass bald der richtige kommt und dass ihr Abschluss gut wird. Vielleicht könnte man in der deutschen Politik etwas verändern. „Ich habe immer das Gefühl, man redet über uns, aber nicht mit uns.“ Sie fühle sich manchmal belächelt und unverstanden, vor allem, was ihr Kopftuch betrifft. „Ich trage das für mich, und nicht, weil mir das irgendjemand aufbindet. Mein Körper ist wie ein Geschenk, das ist auch verpackt, nur meine Familie darf mich ohne Kopftuch sehen. Und mein Mann später.“

Sie schaut auf die Uhr und trommelt mit den Fingern auf den Tisch. 22 Uhr 54 ist es fast, jetzt muss sie sich beeilen, das nächste Gebet steht an. Sie bleibt wach bis zum Sonnenaufgang um drei in der Früh. In der Moschee beginnt ein Mann zu singen und Hajar läuft dem Gesang nach.


Lea Rösner

Unterwegs in seine Freiheit

„Ich habe gesagt: Ich möchte nach Germany. In München kann man Bildung haben.“ Samir Tahimi sitzt auf einem der blauen Gartenstühle. Beim Erzählen betrachtet er manchmal seine Hände, zwischen deren Fingern er die Bändel seines schwarz-weißen Tuches dreht. Dann schaut er seinem Gegenüber wieder in die Augen. Er erzählt von seiner Flucht: „Das war eine echt schwierige Zeit.“

Samir ist 17 Jahre alt; er wohnt im Jugendwohnheim Gern in München, im Erdgeschoss eines grauen vierstöckigen Hauses. Seit eineinhalb Jahren ist er jetzt in Deutschland. Er floh aus Afghanistan.

Geboren in Kabul, flüchtete er im Alter von vier Jahren mit seiner Mutter aus Afghanistan in den Iran. Warum? Samir fällt es schwer, die Worte herauszubringen; er weicht Blicken aus. „Mein Vater“, sagt er, „Die Taliban haben ihn mitgenommen.“ Ein Moment des Schweigens. Er fügt hinzu: „ Meine Mutter hatte niemanden in Afghanistan.“ Also wollten sie im Iran leben. „Ich weiß nicht, ob meine Mutter krank war, aber nach acht oder neun Monaten ist sie gestorben.“ Er schüttelt hilflos den Kopf.

Samir wohnte bei seiner Tante. „Wir waren illegal im Iran. Ich durfte nicht in die iranische Schule gehen“, sagt er. Nur vier Jahre lang besuchte er eine afghanische Schule. Arbeiten durfte Samir danach auch nicht, selbst wenn er gewollt hätte.

Nach zehn Jahren mussten sie zurück nach Afghanistan. Samir wollte nach Deutschland. Die beiden älteren Brüder, heute 27 und 31 Jahre alt, wohnten bereits in München. Seine Tante machte einen Schleuser ausfindig und Samir verließ sie in der kleinen afghanischen Stadt Gazni ohne einen einzigen persönlichen Gegenstand. Zuerst ging er zwei Stunden zu Fuß, fuhr dann sieben Stunden im Bus. Zurück im Iran, für eine Woche. Dann durch das Gebirge nach Ankara, Türkei.Vom Schleuser bekam Samir ein Zimmer zugeteilt. Drei Tage lang blieb er dort.

Dann ging es weiter. Sie waren vier Afghanen, drei Pakistani. Mit einem Schlauchboot – Samir kennt das deutsche Wort nicht und mimt das Auflasen des Bootes – fuhren sie zu einer griechischen Insel. Er überlegt: Vielleicht sechs mal vier Meter groß war das Boot, aber er könne nicht gut schätzen. Zweieinhalb Stunden habe die Überfahrt gedauert. Sie seien natürlich in der Nacht gefahren, fügt Samir hinzu. An den Namen der griechischen Insel kann Samir sich nicht mehr erinnern, sie kauften sich gleich ein Ticket nach Athen. Sie sagten dem Busfahrer, sie hätten nicht viel Geld. Sie könnten nicht viel bezahlen. Er nahm sie trotzdem mit. „Der war echt ein guter Mann, ein Gentleman“, sagt Samir. Die Fahrt dauerte 20 Stunden, dann waren sie in Athen. Samir musste Geduld haben – zwei Tage lang. Er schlief im Park, hatte lange nichts zu essen und zu trinken. Klauen wollte er nicht. Er ging in Geschäfte und bat um essen. „I’m hungry“ – viel mehr gab sein Englisch nicht her. Aber die Griechen hatten selbst nicht viel Geld. Samir erzählt, wie er auch später auf die Straße ging, mit den Leuten sprechen und Kontakte knüpfen wollte. Die Griechen waren unfreundlich zu ihm.

Vom Schleuser bekam er ein kleines Zimmer vermittelt, vielleicht zwölf auf sechs Meter. Darin schliefen 22 Menschen auf dem Teppichboden. „Wir durften nur einmal die Woche duschen“, erzählt Samir, „Essen gab es schon. Zwei Mal am Tag. Zum Frühstück Rührei, Spiegelei, das war alles. Das Mittagessen war gut. Es gab oft Reis oder Spaghetti.“ Vier Monate lang war Samir in Athen, arbeiten konnte er nicht. „Ich hatte Angst, ich konnte nicht schlafen. Die schlimmste Zeit war in Griechenland“, sagt er. Seinem Gesicht kann man das nicht ablesen – er berichtet sachlich. Viele wollten nur mit dem Flugzeug von Griechenland nach Deutschland reisen. „Manche Leute sind gestorben im LKW; sie hatten keine Luft mehr“, erklärt Samir, „Aber ich wollte irgendwie weg, ich wollte nur fliehen.“ Seine Tante besaß Land, das sie komplett verkaufte. Mit den 300€ brach Samir nach Italien auf. „Ich bin 30 Stunden im LKW gewesen. Wir haben zumindest Wasser gehabt.“

In Vicenza kaufte er sofort ein Ticket nach Rom. In Italien sei es besser gewesen, meint Samir. In der Kirche bekam er Essen. Ob er Moslem sei? Samir schüttelt den Kopf. „Ich glaube nur an Gott. Religion, das sind bloß Gesetze.“ Er hätte in einer Unterkunft schlafen könnten. „Dann hätte ich Finger abdrücken müssen. Das wollte ich nicht.“

Die richtige Entscheidung. Denn in das Land, über das Flüchtlinge in die EU eingereist sind, bzw. dorthin, wo sie ihren Fingerabdruck abgegeben haben, werden sie laut EU-Gesetz zurückgeschickt. Das besagt die Dublin II-Verordnung von 2003. In München schaffen sie es bei Jugendlichen oft noch, diese Verordnung zu umgehen. Das sei aber stark von den Entscheidungsträgern von rechtlicher Seite abhängig, erklärt Sabine Ankenbrank, Sozialpädagogin und Betreuerin der WG später.

Samir erzählt seinem Aufenthalt in Rom: „In der Kirche konnte ich nicht schlafen. Ich habe auf der Straße geschlafen. Da gab es U-Bahnen, da habe ich auch geschlafen.“ Er redete mit anderen Afghanen in Rom. Sie rieten ihm, keinen direkten Zug nach Deutschland zu nehmen. Da gäbe es Passkontrollen. Also fuhr er nach Salzburg, von dort nach München.

Angekommen? Vier Monate lang wohnte Samir bei seinem Bruder, der aber Alkohol- und Geldprobleme hatte. Ein Rechtsanwalt vermittelte Samir an die Jugendpension in München, eine Schutzstelle für Flüchtlinge. Bis heute hatte es ihm dort am besten gefallen. Samir hatte ein Einzelzimmer, das Essen war lecker, es war sauber, die Betreuer nett. Neben den Freunden aus der Schule hat er auch jetzt noch Freunde aus der Jugendpension. Im Anschluss wohnte Samir sieben Monate lang im Erziehungshilfezentrum Adelgundenheim, einer Einrichtung der katholischen Jugendfürsorge.

Am 1. April 2012 kam Samir dann in die WG nach Gern, in der er jetzt wohnt. An zwei Abenden pro Woche und an jedem zweiten Sonntag ist eine Betreuung da. Ansonsten wohnt er zusammen mit fünf Jungen und einem Mädchen aus Afghanistan, Somalia und China. Hier wohnen nicht immer nur Flüchtlinge. Das Jugendwohnheim Gern, eine der drei WGs von Gesellschaftspolitische Projekte e.V., ist normalerweise keine reine Flüchtlings-WG, sondern nimmt auch Deutsche mit Gewaltproblemen, familiären Problemen, etc. auf. Das Jugendamt trägt die Kosten. Als Taschengeld bekommen die Jugendlichen 304€, von denen noch einmal 40€ für Miete, Kaution und Telefon abgehen.

Montag- und Donnerstagabend wird geputzt. Samir erzählt, dass seine Tante keine Kinder hatte, also musste er kochen und putzen – „Ich war wie ein Mädchen.“ Er beschwert sich: „Ich putze gerne, aber die anderen machen nichts.“ Es ist ihm zu dreckig in der WG. Aber sein Zimmer ist sauber. Aufgeräumt. Das Bett ist gemacht und der Schreibtisch fast leer. Auf einem Tischchen steht sein Laptop, auf dem kleinen Schrank Boxen. Was für Musik er höre? Samir zögert einen Moment, sagt dann: „Jazz und Klassik. Aber mehr Jazz.“

Die oberen Reihen des Regals sind gefüllt mit Essen, Nudeln. In der Ecke steht ein Kühlschrank. Gekocht wird selten zusammen. Auf die Frage, ob seine Mitbewohner nicht nett wären, wiegt Samir den Kopf. Geht so. „Er tut sich ein bisschen schwer damit, Kontakte zu knüpfen“, wertet Frau Ankenbrank, eine der drei Betreuerinnen.

Samir besitzt nicht viel. In seinem Regal liegt ein Buch – er liest gern. Sein Lieblingsbuch ist Robin Hood. Zum Deutschlernen sei es gut, dass er so viel lese. Eine Deutsch-Vokabelkartei und ein Persisch-Deutsches Wörterbuch stehen noch in seinem Regal. „Ich spreche nicht gut genug Deutsch. Ich möchte alles verstehen, was die Leute sagen“, sagt er über sich selbst. Aber Samir spricht gut Deutsch. Angefangen zu lernen hat er vor eineinhalb Jahren, als er nach München kam. Er sagt, er lerne gerne. „Im Iran wollte ich immer in die Schule gehen“, erzählt er. Gerade hat Samir seinen Hauptschulabschluss gemacht – mit einem Schnitt von 1,5. In Deutsch hat er eine 1 bekommen, in Mathe, seinem Lieblingsfach, hat es nur zu einer 3 gereicht. Während der Prüfung beschäftigte ihn noch ein Streit vom Vorabend, sodass er sicht nicht konzentrieren konnte. Das ärgert ihn. Samir geht weiter zur Schule. „Ich möchte meine Mittlere Reife machen. Wenn ich Geld habe, mache ich nächstes Jahr auch meinen Führerschein. Ich hoffe, das Geld reicht.“ Sein Traum ist, eine Ausbildung zum Automechaniker zu machen und bei Mercedes oder BMW zu arbeiten. Lieber BMW, das ist seine Lieblingsautomarke.

„Ich bin frei. Ich kann machen, was ich will. Und ich habe ein Ziel. Ich vermisse gar nicht Afghanistan und Iran und Griechenland und Italien. Ich will wie ein Mensch leben. Im Iran gab es das nicht“, sagt Samir. Zu seiner Tante hat er keinen Kontakt mehr. Er weiß nicht, ob sie noch in Gazni, Afghanistan, wohnt. Samir kann dorthin nicht telefonieren, E-Mails oder Briefe schreiben. Über seinen Vater sagt er: „Vielleicht lebt er immer noch, vielleicht auch nicht.“ Nur mit seinem zweitältesten Bruder, 27 Jahre alt, trifft Samir sich regelmäßig. Sein Bruder wohnt auch in einem Jugendwohnheim in München. Samir fühlt sich hier in Deutschland nicht wie ein Migrant. „Ich sehe mich als Deutscher“, sagt er, „Im Iran war die Ausgrenzung viel stärker als hier. Ich muss auf jeden Fall hierbleiben.“

Trotzdem lebt er eingeschränkt: Bayern darf Samir nicht verlassen. Wenn er verreisen will, muss er einen Antrag stellen. Samir macht das nicht – es dauert sehr lange. Nur manchmal verreisen sie mit der ganzen WG und den Betreuern.

Samir tippt seine E-Mail-Adresse und das Passwort ein und seine Facebookseite öffnet sich. Er fügt einen neuen Freund hinzu. Paul M. aus Berlin. Samir weiß nicht, ob er irgendwann nach Berlin kommen wird, aber wenn, dann wüsste er, wo er schlafen könnte. Es wäre keine Flucht mehr. Er hätte ein eigenes Bett. Er hätte Geld, genug zum Essen und zum Trinken.


Inge Akyaa

Die Flucht aus dem Nichts

Die Sonne fängt sich in seinem schwarzen Haar. Er blickt auf seine Sonnenbrille. Dreht sie in seinen Händen. Hamid versucht sich an das Geschehene zu erinnern. Einen Moment lang hört man nur das Rauschen des Windes und die spielenden Kinder von nebenan. Er blickt hoch und ist wieder in der Gegenwart.

Hamid Azizi, 19 Jahre alt, ist ein Flüchtling aus Afghanistan. Der dortige Bürgerkrieg zwang ihn und seine Familie in den Iran. Hamid ist damals vier Jahre alt. Er verbringt seine Kindheit inmitten von Gefechten und in der Angst ermordet zu werden.

“Ich erinnere mich wie ich barfuß die rissige Straße entlanglaufe. Vor mir war das weite Nichts. Aus ihm kamen die Männer mit Kalaschnikows. Über mir flogen Kampfjets”. Hamid dreht die Sonnenbrille in seinen Händen und blinzelt gegen das Sonnenlicht. Da war er fünf oder sechs, das weiß er nicht mehr so genau. Niemand weiß wann genau er geboren worden ist. Es soll aber im Sommer gewesen sein. Man konnte soetwas nicht dokumentieren lassen. Ohne Dokumente konnte man auch nicht in die Schule gehen. Er und seine Familie beschließen, dass es gut wäre, wenn Hamid sich auf die gefährliche Reise macht, um woanders in die Schule gehen zu können. Um möglicherweise ein besseres Leben zu leben.

Die Reise dauert zwei Monate. Er weiß nie wo er sich befindet, oder wo er hingebracht wurde. “Ich war immer in diesem dunklen Raum. Ich hatte große Angst. Die Schlepper waren schlimme Menschen.”, sagt er. Hamid weiß, dass er viel in der Türkei war. Er ist von dort wahrscheinlich über Italien nach Deutschland gekommen.

Vor zweieinhalb Jahren wurde er dann von der Grenzpolizei in Rosenheim aufgegriffen. Die Beamten waren hart und behandelten ihn wie einen Verbrecher. “Es waren vier große Männer, die sich vor mir aufbauten. Ich befürchtete von ihnen geschlagen zu werden!”. Er verbrachte eine ganze Nacht in einer kleinen Zelle mit kaum Beleuchtung und einem harten Bett. Von dort kam er in ein Asylheim für minderjährige Flüchtlinge. Knapp fünfzehn Quadratmeter große Zimmer für sechs Jugendliche. Kaum Platz um sich zurückziehen zu können.

Die Angst davor, was mit ihnen geschehen würde, ist allgegenwärtig. Ob sie wieder in ihr Herkunfsland zurück müssen. Ob die gefährliche Flucht umsonst gewesen ist.

“Flüchtlinge werden als Verbrecher angestempelt. In den Medien wird die Flucht vor Hunger und Armut, politischer Verfolgung oder auch Zerstörungen durch Umweltkatastrophen kriminalisiert!”, so Uche Akpulu vom Bayrischen Flüchtlingsrat.

2003 kam er nach Deutschland und lebte vier Jahre in einem Asylheim. Zusammen mit drei weiteren Männern auf dreizehn Quadratmeter. “Es gab zwei Duschen. Aus einer kam nur kaltes Wasser. Im Winter war das wirklich schlimm.” , berichtet Herr Akpulu. Seine Stimmer wird lauter und bebt vor Zorn. “Es ist eine menschenunwürdige Behandlung. 40,90 Euro Taschengeld für den ganzen Monat ist nicht genug. In Schlangen zu stehen, um sich etwas kochen zu können, ist nicht das was wir uns vorgestellt haben”. Dieser Ansicht ist ebenfalls das Bundesverfassungsgericht und beschloss, dass Taschengeld in Höhe von 40,90 Euro nicht ausreichend ist. Die Aufenthaltsrechte und die Asylverfahren werden jetzt überarbeitet.

“Viele dieser Flüchtlinge erleiden schwere Traumata. Niemand weiß genau, was auf ihrere Reise mit ihnen geschehen ist. Viele haben in ihrem Herkunftsland Tragisches sehen und erleben müssen”, sagt die Diplom-Sozialpädagogin Sabine Ankenbrank. Sie ist Betreuerin in der Wohngemeinschaft in Gern, in der auch Hamid lebte.

Die Erinnerungen holen die Jugedlichen immer wieder ein. Das macht den Alltag für die Flüchtlinge schwierig. Viele können sich nicht verständigen, da sie bis auf ihre Muttersprache keine weitere sprechen. Einige der Flüchtline wie Hamid, erhalten hier erstmalig eine schulische Bildung.

“Man muss die Sprache können, wenn man hier lebt. In der WG haben wir immer versucht Deutsch zu sprechen.”, sagt Hamid. Er hat fünf Monate einen reinen Deutschkurs belegt und hat dann am Schlau-Projekt teilgenommen. Das Schlau-Projekt ermöglicht es Flüchtlingen zwischen 16 und 18 Jahren ihren Hauptschulabschluss zu absolvieren und im Anschluss in eine Ausbildung zu gehen. “Hamid ist wahnsinnig zielstrebig. Er ist eine Ausnahme.”, sagt Frau Ankenbrank. Hamid hat eine Ausbildung zum IT Kaufmann begonnen. Danach möchte er seine Fachhochschulreife machen und studieren, Bauingenierwesen und Informatik.

Seinem Ziel ist er mit dem Abschied aus der WG wieder ein Stück näher gekommen. Die Zeit dort hat er sehr genossen. Er hat viel gelernt, viel erreicht und auch Freunde gefunden. Man konnte sich wie ein “normaler” Jugendlicher verhalten. “Wir haben auch das eine oder andere Mal Mist gebaut. Glücklicherweise ist es immer fast gut gelaufen.” Die Beziehung unter den Jugendlichen und den Betreuern ist sehr ausgeglichen. Die Gemeinschaft wird zur Ersatzfamilie. Seine echte Familie hat er zuletzt bei seiner Flucht gesehen.

Hamid Azizi ist allein in die Fremde geflohen. Er wusste nicht, wo er ankommen würde -ob er ankommen würde. Er weiß aber, woher er kommt. ”Man darf das nicht vergessen. Ich bin ein Ausländer und bleibe es auch. Ich versuche mein bestes zu geben .”


Robert Mittag

Papa Rudi und seine Schützlinge

Philipp geht über den Trainingsplatz. Er sieht sportlich aus – kurze Hose, T-Shirt, Turnschuhe. In seinen Händen hält er ein Fußballnetz und bunte Hütchen. 15 Jungs rennen auf ihn zu, warten bis das Netz am Boden liegt und beginnen mit den Bällen zu spielen.

Im Schatten eines Ahornbaumes, der auch zum Gelände von buntkicktgut in der Ganghofer Str. 41 gehört, sitzen drei Jungs. Angestrengt unterhalten sie sich und beobachten die anderen bei ihren Ballübungen. Plötzlich stehen sie auf, sprinten über den Platz, begrüßen Rudi, ihren Papa Rudi – Händeklatschen, „Hallo“, ein freundlicher Kopfstups.

Rudi kennt alle seine Schützlinge. 80 verschiedene Teams sind bei buntkicktgut angemeldet. Aus der Idee durch Straßenfußball Ruhe in ein Flüchtlingslager zu bringen, hat sich ein über die Stadtgrenze von München hinaus bekanntes Projekt entwickelt. „Wir wollen den Kids vermitteln, dass wir sie als Menschen respektieren. Nur so kann man ihnen Werte vermitteln.“

In fünf verschiedenen Altersklassen spielen die Mannschaften Straßenfußball. Jede von ihnen organsiert sich selbst. Grundvorrausetzung sind sechs Spieler. Für 30 Euro Anmeldegebühr kann man für eine Winter – oder Sommersaison mitspielen.

„Pokern wollen die Jungs immer, aber 30 Euro sind fünf Euro für jeden – so viel wie ein McDonalds-Menü und dann sollen sich die Jungs zwischen einem halben Jahr Fußball und einem Menü entscheiden.“ Rudi lacht und wendet sich zu den Jugendlichen, um sie für ein Auswahltraining zu begrüßen.

Man merkt Rüdiger Heid, wie er eigentlich heißt, seine Begeisterung für buntkicktgut an. Voller Stolz erzählt er Anekdoten, muss dabei schmunzeln – immer mit einem Auge auf das Training blickend.

Zu Philipp, der eigentlich in Wien studiert hat und jetzt bei buntkicktgut ein Praktikum macht, hat sich mittlerweile Abdullah gesellt. Im Jahr 2000 hat er bei buntkicktgut angefangen. Jetzt ist er einer der Betreuer, die bei der Organisation helfen. Zusammen leiten sie das Training. Es wird eine Art „dummer Junge“ für Fußballer gespielt. Dann spielen die Jungs in Mischteams gegeneinander Fußball. Ohne militärischen Drill – dafür mit viel Freude und Disziplin.

Zuviel Disziplin für einige: In einem Park nahe der U-Bahn Station Schwanthaler Höhe sitzen fünf Jungen, einer isst gerade mit Stäbchen sein chinesisches Menü, die anderen unterhalten sich im Straßenslang. „ Klar kennen wir buntkicktgut, aber Rudi hat uns ausgeschlossen – haben zu viel Scheiß gebaut, müssen erst vor`n Liga Rat, dann können wir wieder mitspielen.“ Was die Jungs verbockt haben wollen sie nicht sagen, aber man merkt, dass sie gern wieder dabei wären.

Disziplin ist für Rudi das Wichtigste. Wer gegen die Regeln verstößt, muss vor den Liga Rat- ein Gremium aus Schiedsrichtern. Hier wird über mögliche Konsequenzen abgestimmt.

Das heutige Training soll eine erste Bestandaufnahme sein, wer mit in die Auswahl kommt. Diese fährt nach Polen in ein Camp, um dort Kontakt zu polnischen Jugendlichen zu knüpfen. Leistung allein zählt nicht. Die Jugendlichen müssen auch wissen, wie man sich benimmt.

Zu diesem Benehmen gehört für Rudi, dass man sich vor und nach dem Spiel die Hände reicht. Schimpfwörter sind verboten. Die Sprache auf dem Feld ist natürlich Deutsch. „Damit wir sie verstehen, falls sie sich beleidigen“, sagt Rudi.

Doch Beleidigungen kann man bei dem Training nicht hören. Zu konzentriert versuchen die Jungen den Ball ins gegnerische Tor zu befördern. „Ich hab hier Spaß. Das noch Kinder aus anderen Nationen hier sind stört mich nicht“, sagt der 12-jährige Alexis. Er kommt selbst aus Frankreich, bezeichnet sich als Franzose. „Meine Heimat aber ist Deutschland.“

„Die sogenannte Integration funktioniert bei uns von ganz allein. 90 % aller Jugendlichen würden euch sagen, sie spielen hier, weil es ihnen Spaß macht“, so Rudi. Ihnen ist es ganz egal woher die anderen Mitspieler kommen.

Wenig verwunderlich ist da auch das Klingeln seines Telefons. Im Stadtteil Aubing bittet man um die Einführung von buntkicktgut, um so die Jugendlichen unter Kontrolle zu bekommen.

Philipp geht über den Trainingsplatz. Diesmal sammelt er die Trainingsutensilien ein. Die Jungs gehen, das Training auswertend, in Zweier- bis Fünfergrüppchen nach Hause. Man sieht ihnen an, dass sie sich auf das nächste Training freuen.


Olivia Kelnreiter

An den Willen glauben

Auch in München lebt die muslimische Gemeinde den Ramadan. Ein Besuch im islamischen Zentrum in Fröttmaning.

Hajar wartet, bis die Sonne untergeht. Sie sitzt mit ihren Freundinnen Rania und Zahra entspannt auf dem weichen Teppichboden der Moschee und wartet. Heute um 20.55 Uhr. Dann werden sie zum Gebet aufstehen und fünf Minuten später im weißen Festzelt gemeinsam das Fasten brechen. Mit einem Glas Milch oder Wasser und einer Dattel, wie damals der Prophet Muhammad.

Seit dem 7. Jahrhundert nach Christus dient der neunte Monat des islamischen Mondkalenders – der Ramadan – dazu, die eigene Verbindung mit Allah durch Fasten zu stärken. Man versucht, seine Triebe vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang unter Kontrolle zu halten und verzichtet sowohl auf Essen und Trinken, als auch auf Geschlechtsverkehr, Rauchen oder Wut. Der Glaube der Muslime ist so stark, dass der Ramadan auch in einer westlichen Stadt wie München von vielen streng eingehalten wird. Um sich gegenseitig zu stärken bieten Moscheen nach dem Abendgebet oft ein gemeinsames Fastenbrechen – Iftar – an.

Meist feiert man aber mit der Familie, erzählt Deniz. Bei „Kubi Kosmetik“ wartet sie nachmittags mit einer Freundin auf deren Friseurtermin. Die Wartebänke sind voll und die Friseusen laufen hektisch hin und her. Endlich wird die Freundin aufgerufen. Deniz lehnt sich zurück und freut sich auf das Abendessen. Sie ist bei ebenfalls muslimischen Verwandten eingeladen, obwohl weder sie noch ihre Eltern fasten. Mehrmals hat sie es probiert, verlor aber das Bewusstsein, nachdem sie den ganzen Tag nichts getrunken hatte. Wem es gesundheitlich nicht möglich ist, der soll nicht fasten. Deniz fühlt sich trotzdem als schlechte Muslimin und lässt schnell das Buch „Shades of Grey“ in der Handtasche verschwinden. Wie sehr man seine Religion lebt, hänge von der Erziehung ab, will sie sich entschuldigen. Als sie vor kurzem ihre Oma in der Türkei besucht hat, war sie fasziniert von den Kopftüchern der Frauen. Sie selbst trägt keines.

Hajar, die in der Moschee noch immer mit ihren Freundinnen redet, sieht das klarer: Entweder man praktiziert den eigenen Glauben oder nicht. Sie fühlt sich wohl in ihren weiten Kleidern und dem türkis-gemusterten Kopftuch. Während sie von der Liebe zu Allah spricht, leuchten ihre Augen. Die fünf täglichen Gebete und das Fasten vergleicht sie mit „einem kleinen Gefallen, den man für eine Person, die man liebt, gerne macht.“ In diesem Moment erschallt die Stimme eines Mannes. Er ruft auf arabisch: „Eilt herbei zum Gebet, eilt herbei zu eurem Heil.“ Hajar und die Freundinnen stellen sich an den Rand der Plattform, die sich balkonartig über den restlichen Teil der Moschee zieht und für die Frauen gedacht ist. Die räumliche Trennung wird damit begründet, dass ein Mann beim Gebet nicht durch eine wohlriechende Frau abgelenkt werden darf.

Es finden sich immer mehr Männer in der Moschee ein. Nach einem Glas Milch reihen sie sich entsprechend der Musterung des Teppichs auf. Drei Reihen entstehen. Als alle bereit sind, beginnt das Gebet. Arabische Worte, eine Handbewegung, sie legen sich in Richtung Mekka auf den Boden. Alles folgt einem festgelegten Rhythmus.

Wer möchte, kann nun im Zelt Iftar feiern. Hajar, Ranja und Zahra schlendern zum kleineren Zelt, wo die Frauen essen: „Das ist einfach gemütlicher, wenn wir unter uns Frauen sind. Man kann auch freier reden.“ Frauen und Kinder sitzen bereits an drei langen Tischen und unterhalten sich. Auch vier Männer sind hier. Sie haben gekocht und versorgen die Freundinnen sofort mit warmen Speisen. Beim Essen bemerkt Hajar den silbernen Ring an Ranias Finger. „Och, zeig’ mal her!“ Es ist der Hochzeitsring, den Ranias Mann aus Ägypten mitgebracht hat. Die beiden sind seit einem Monat verheiratet und im Herbst werden sie nach Ägypten ziehen. Was dann ist, weiß sie noch nicht. „Vielleicht will ich eine Familie gründen. Oder zuerst studieren. Ich werde einmal schauen, wie es mir dort gefällt.“

Hajar hat auch Pläne. Nachdem sie ihr Jura-Studium abgeschlossen hat, möchte sie etwas mit Völkerrecht machen und einen Mann finden. Denn obwohl sie mit 26 bereits einige Anträge erhalten hat, „der Richtige war noch nicht dabei.“

Mittlerweile sind die Freundinnen alleine im Zelt. Sie reden bis zum Nachtgebet um halb elf. Und auch dann werden sie nicht schlafen gehen, nach so viel Essen. Hajar erzählt, dass sie erst nach dem Morgengebet Ruhe findet. Wie sie sich bis halb vier am Morgen beschäftigt? Lesen, Musik hören, fürs Studium lernen… Sie ist eben doch eine Frau wie viele andere. Bloß mit Kopftuch.


Franziska Koohestani

Happy, Happy

Seine Wünsche sind eigentlich ganz normal: Mittlere Reife, studieren, einen Job finden. Nur in einem unterscheiden sie sich von denen der anderen 19-jährigen. „Ich möchte endlich meine Familie besuchen.“Hamid Azizi senkt den Blick hinab auf die Tischplatte. Die Familie ,von der er spricht hat er seit zweieinhalb Jahren nicht gesehen. Seit seiner Flucht aus dem Iran.

Denn Hamid Azizi ist ein in München lebender Flüchtling afghanischer Abstammung. Er wohnte bis vor kurzem in der Jugend-WG in Gern, einer Wohngemeinschaft für Flüchtlinge, aus der er nun ausgezogen ist. Heute wird hier sein Abschied gefeiert. Der Rest der Gruppe bereitet gerade das Essen vor. Den Duft von gekochtem Gemüse und Fleisch, von süßen und deftigen Gewürzen riecht man im Garten der WG.Extra für ihn gibt es heute Speisen aus seiner Heimat Afghanistan.

„Mit meiner Familie bin ich in den Iran geflohen, als ich vier war.Wir hatten Druck von Afghanistan“, erzählt er. Sie wurden aus religiösen Gründen von der Taliban verfolgt. Aber für Hamid war es auch im Iran schwierig, denn die Familie besaß keinerlei Dokumente. Ohne diese kann man im Iran allerdings nicht zur Schule gehen. Also begab er sich mit 16 Jahren auf die Flucht nach Deutschland. An diese Reise mit dem Schlepper kann sich Hamid nur teilweise noch erinnern. „Es waren alle bewaffnet.“, sagt er.„Ich habe die Zeit vergessen.“

Seine Familie musste er in der iranischen Stadt Maschhad zurücklassen.In Rosenheim wurde Hamid festgenommen und verbrachte eine Nacht im Gefängnis. „Ich muss ehrlich sagen: das war heftig.“ -„Wie meinst du das?“, fragt ihn Sabine Ankenbrank,die Sozialpädagogin und eine der BetreuerInnen in der Jugend-WG. „Sie wollten mich schlagen, Sabine.“Wie so oft nennt er seinen Gegenüber beim Namen, während er antwortet.„Die Deutschen?!“, fragt Frau Ankenbrank.„Ja, die Deutschen.“, erwidert er und lacht. Heute kann er das.

In Bayern gibt es 7000 Asylbewerber. Die meisten von ihnen stammen aus Afghanistan, dem Irak, Nigeria und aus dem Iran. Bei Minderjährigen werden die Kontakte für Unterkünfte über das Jugendamt geknüpft. Sie werden da untergebracht, wo ein Platz frei ist. Die Jugendlichen bekommen einen Vormund, der für rechtliche Dinge verantwortlich ist. Meistens wird dieser Vormund auch durch das Jugendamt vermittelt. Während der Wartezeit wohnen die Suchenden in Erstaufnahmestellen für minderjährige Flüchtlinge. „Das war wirklich krass. Wir waren sechs Leute in einem Zimmer.“, sagt Hamid. Ganz anders als in der WG, in der jeder sein eigenes Zimmer hat. Dort gibt es eine große Küche, ein Wohnzimmer und einen Garten mit einem großen Holztisch und zwei Bänken.Momentan wohnen zwei Afghanen, drei Somalier und eine Chinesin hier, aber normalerweise werden auch deutsche Kinder untergebracht. Frau Ankenbrank und ihre Kollegen wechseln sich mit den Besuchen ab.

„Je besser die Beziehung zwischen den Betreuern ist, desto besser ist meistens auch die Entwicklung. Man ist ja auch eine Art Familienersatz.“Sabine Ankenbrank stützt ihren Kopf auf die Handinnenflächen und schaut zu Hamid herüber. „Sabine war meine Tante.“ Er blickt zurück und lächelt.

Hamid lebt seit zweieinhalb Jahren in Deutschland. Er wird dieses Jahr 19. Wann genau, das weiß er nicht. Sein wahrer Geburtstag wurde nie aufgeschrieben. „Irgendwann im Sommer.“. Er spricht fehlerfreies Deutsch, trägt ein blaues T-Shirt mit V-Ausschnitt und eine beige Hose. Seine Haare sind dunkel und kurzgeschnitten.

„Es war ungewöhnlich, dass es bei ihm so schnell ging.“, sagt Sabine Ankenbrank. Damit meint sie nicht nur seine Sprachkenntnisse, sondern auch die Schnelligkeit mit der er die Schule beendete, die Ausbildung begann und in das betreute Wohnheim zog. „Wenn du weißt, dass du hier lebst, musst du die Sprache beherrschen, das war mir sehr wichtig.“Hamid möchte es nicht bei seiner Ausbildung zum IT-Kaufmann belassen. Er hat große Pläne für die Zukunft und bis zu einem Studium gelangen. „Gott sei Dank, dass ich hier bin. Ich kann hier zur Schule gehen, kann einen Job haben.Ich bin mit der Situation zufrieden.“. Aber seine Familie vermisst er sehr. Seine 2 Schwestern, die Mutter und den Bruder wiederzusehen, das würde ihn glücklich machen. Hamid hebt die Hände und zieht die Schultern hoch. Er lächelt. „Wenn`s klappt: Happy, happy.“, sagt er.


Isabel Humke

„Man ist überall zu Hause!“

Endlich! Die erste Mahlzeit in 15 Stunden. Eine Gruppe Frauen sitzt an einem gedeckten Tisch. Vor ihnen steht ein Tablett mit frisch zubereiteten, gutriechenden Nudeln, Hähnchen und einem Nachtisch drauf. Jeder von ihnen genießt es. „Es ist schön, nach dem Fastenbrechen die Möglichkeit zu haben, mit anderen Menschen zusammen zu essen und somit nicht alleine zu Hause zu sitzen. Diese wichtige Mahlzeit sollte man nicht alleine verbringen.“, sagt Hajar Dhahn, 26, Jurastudentin. In der Moschee im Islamischen Zentrum München fühlen sich alle wie eine große Familie. Unterschiede werden nicht beachtet. Der Glaube verbindet sie alle.

Ramadan nennt sich dieser Monat. 29 Tage lang verzichten die Moslems tagsüber auf Trinken oder Essen. Für einen Anhänger des Islams ist das eine Selbstverständlichkeit. Es gehört zu den fünf Säulen des Islams, die man als Gläubiger einhält. Das Ziel des Fastens ist es, seinen Körper und seine Seele zu reinigen, sich selber wieder zu finden.

Schon früh begeisterte sich Hajar aus eigenem Antrieb, ohne Zwang durch die Eltern, für ihre Religion und beschloss bereits im Alter von sechs Jahren zu fasten. „Man möchte selber so früh wie möglich mit dem Fasten beginnen und seine Religion vollständig leben“, sagt Hajar mit funkelnden Augen. Hajar fragt zwei Mädchen, ob sie schon fasten. Beide bejahen stolz. Mit einem Augenzwinkern sagt Hajar, dass junge Kinder erst in kleinen Abschnitten beginnen zu fasten und nicht sofort 15 Stunden am Tag nichts essen. Schwangere und Kranke sind vom Fasten ausgeschlossen, da das Fasten für die Gesundheit verheerende Folgen haben könnte. Auch Hajar darf diese Woche aussetzen auf Grund ihres Zyklus. Diese Woche darf sie im Laufe des nächsten Jahres beliebig nachholen. „Am liebsten würde ich das im Winter machen, dann sind die Sonnenstunden nicht so lang.“

Wegen der geringeren Nahrungsaufnahme, nimmt man während des Ramadans ab. „Wenn man nicht abnehmen würde, würde man irgendetwas falsch machen.“, sagt Hajar lachend. Durch den Glauben ist man bestärkt dies durchzuhalten. Viele Leute haben dabei das Gefühl, wieder zu sich zu finden . Es ist wie eine Erholung von allen Sünden und Genüssen, die man sich sonst ohne nachzudenken gönnt. Das Ziel dabei ist, sich auf das Wesentliche, die Beziehung zwischen dem Einzelnen und seinem Schöpfer, zu konzentrieren.

Dazu geht man in die Moschee. Dort sind auch Hajar, Zahra und Rania. „Man kann in jede Moschee gehen. Man ist überall zu Hause“, sagt Rania. Sie sitzen im Kreis und reden miteinander, während andere sich in den Koran vertiefen oder zu Allah beten. Jeder Einzelne ist in der Moschee willkommen. Um nicht die Männer mit ihrem süßen Geruch abzulenken, haben die Frauen ihre eigene Empore, wo beten können. Vor dem Betreten der Moschee muss man seine Schuhe ausziehen. Die Moschee sollte man mit langer Kleidung betreten. Verboten ist es, sich mit enger, durchsichtiger oder kurzer Kleidung zu zeigen, auch im Alltag. „Ich fühle mich wohl mit dem was ich anhabe, sonst würde ich es nicht anziehen.“, sagt Hajar und zupft an ihrem arabischen Gewand. Wie die meisten Frauen tragen die drei Freundinnen ein Kopftuch. Das Kopftuch ist nicht zwingend. Jeder darf entscheiden, ob er es tragen möchte oder nicht. „Im Prinzip bist du ein Geschenk. Du verpackst dich und erst dann, wenn du dich verliebst und diesen Menschen heiratest, bist du bereit dich auszupacken. Es ist für mich etwas ganz Besonderes“, sagt Hajar. Genauso besonders ist auch die Jungfräulichkeit. Diese verliert man erst nach der Eheschließung, sowohl der Mann als auch die Frau.

Beim Ramadan verzichten Hajar und ihre Freundinnen außer auf Essen und Trinken während der Sonnenstunden auch auf Lügen, Beleidigungen und Verleumdungen.

Rauchen ist auch verboten. Für viele Kettenraucher, wie Aydos Nrürir, ein 29- tägiger Entzug. Er besitzt ein Geschäft in der Schwanthalerstraße. Um sein Geschäft herum sind viele Fast- Food Kette, eine große Verlockung. Für ihn jedoch kein Problem, da er Allah hat, der ihm hilft. „Normalerweise rauche ich 30 Zigaretten am Tag, während des Ramadans keine einzige.“, sagt er stolz. Genauso einfach sei es auch, seine Religion in einem fremden Land auszuüben. Man kann überall glauben.

„Wir sind wie ein große Familie“, sagt Hajar. Zusammen brechen sie das Fasten vor dem 4. Pflichtgebet mit Datteln und einem Glas Wasser. Sie nehmen es nicht mit Gier zu sich, sondern genießen jeden Bissen. Danach wird gebetet, alle zusammen. Nach dem Gebet gehen alle in ein Zelt und feiern gemeinsam das Fastenbrechen, wie in einer großen Familie.