Preis der Literaturhäuser 2004

Peter Kurzeck

Die Faszination entsteht in dem Moment, in dem man in das Labyrinth seiner Beobachtungen eintaucht: Mit disparaten, minutiösen Aufzeichnungen gelingt es Peter Kurzeck, Motive, Bilder, Augenblicke seines Lebens, Menschen in Kneipen und Wohngemeinschaften in einer offenen Erzählstruktur zu inventarisieren. Er kennt jeden Winkel, jede Straße der Stadt, in der er “als Gast” wohnt – mit einem Lebensgefühl, in dem das Gehen ein Lebenszustand ist.

Seit Jahren verknüpft und verschränkt Peter Kurzeck so seine mittlerweile neun Bücher zu einem einzigartigen monumentalen Erinnerungswerk und zu einem einzigen autobiographischen Zeitroman, der von der Nachkriegszeit bis in die achtziger Jahre, und geographisch von Staufenberg bei Gießen bis nach Frankfurt am Main reicht, zu dessen gründlichstem Beobachter er wurde – so auch in seinem neuen Buch “Ein Kirschkern im März”, das Ende März 2004 erscheint.

Eigentlich hatte er über das Jahr 1977 schreiben wollen, über den Terrorismus und den deutschen Herbst – dann meldeten sich aber all seine Erinnerungen an das Vergangene und Private zu Wort und Peter Kurzeck begann, bundesrepublikanische Wirklichkeit zu beschreiben: “Wenn ich mich nicht erinnere, ist der Tag nicht gewesen”. Hat ein Schriftsteller diese ungeheure immerwährende Protokollmanie, dann ist jede Beobachtung wichtig und jede Ruhe dahin – denn es soll keine natürliche Lücke in der Erinnerung eine Chance haben. Dafür braucht der Autor jeden Tag, jede Stunde und jedes Buch, das er schreibt.
Peter Kurzeck wurde – zu Recht – mit Proust, Joyce und Döblin verglichen, aber mit seiner eigenwilligen, schöpferischen Syntax gelingt ihm ein neuer, unverwechselbarer Umgang mit Literatur und Erinnerung. Die Programmleiter der Literaturhäuser würdigen so mit ihrem Preis an Peter Kurzeck eines der ungewöhnlichsten Zeitroman-Projekte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Seine Schreibstrategie ist das konsequente Selbstgespräch in vielen Stimmen. “Unterwegs mit den Stimmen reden. Mit mir, mit dem Tag, mit den Umständen”, damit er weiß, so schreibt Peter Kurzeck, “wer er ist und daß er gewesen ist, der Tag”. Die dialogisierende, verknappte, temporeiche Sprache bildet einen mitreißenden Sog, wenn der Autor liest. Der Preis der Literaturhäuser gilt auch dieser Faszination des Vortrags. Der leicht zaudernde, gedehnte Ton und das Staunen in seiner Stimme verwandeln die Lesungen in einen langen inneren Monolog, und die Zuhörer tauchen ein in eine wiedergefundene Zeit. Kurzeck liest und die Zuhörer erleben die Vervollkommnung einer süßen Obsession. Und selten ist ein Vorleser so identisch mit seinem Text.